Kereeda Hirokazu
Für Koreeda Hirokazus Jugenddrama "Kaibutsu" gab's in Cannes die queere Palme und den Drehbuchpreis.
© Viennale

Rückblickend kann man schon jetzt konstatieren: Es war ein gutes Festivaljahr. Unberührt von Hollywood-Streiks konnte man gerade im Bereich des internationalen Independentkinos einiges sehen, das sich ins Gedächtnis eingebrannt hat.

Roter Himmel etwa, von Christian Petzold, dem auf der diesjährigen Berlinale der Jurypreis verliehen wurde. Roter Himmel ist klassisches Petzold-Kino, das eine große Liebe zur Filmgeschichte versprüht und dann doch Schraubstellen findet, die den Film ans Jetzt binden.

Angefangen bei der Besetzung: Der Österreicher Thomas Schubert, der seinen Durchbruch in Karl Markovics Atmen hatte, spielt Leon, einen grantelnden Autor, der sich die vollgeschwitzten Leiberln vom Körper zupft wie Slavoj Žižek. An den nahegelegenen Ostseestrand geht er schon gar nicht, dafür fühlt er sich viel zu unwohl in seiner Haut. Und da ist Paula Beers Nadja, die bezaubernde Muse, von der Petzold nicht ganz lassen kann und in die sich Leon natürlich verliebt (was ihn noch grantiger macht).

Der Himmel ist aber nicht rot vor Liebe – Kitsch setzt uns Petzold nicht vor –, sondern wegen des Waldbrands, der in der Nähe des Ferienhauses der jungen Leute wütet. Willkommen, Klimawandel.

Roter Himmel
Stadtkino Filmverleih

Schulszenarien in der Türkei und Japan

Eiskalt ist es dagegen in Nuri Bilge Ceylans Kuru Otlar Üstüne (About Dry Grasses). Auch hier steht ein Mann im Zentrum, der sich selbst nicht besonders mag. Den Selbsthass richtet Samet indes weniger gegen sich als gegen andere. Seinen Lehrerkollegen Kenan etwa, dessen Zufriedenheit ihn insgeheim anwidert.

Als er bemerkt, dass es zwischen Kenan und ihrer gemeinsamen Zufallsbekanntschaft Nuray knistert, funkt Samet wie ein Kleinkind dazwischen. Heraus kommt eine der interessantesten politischen Diskussionen, die dieses Jahr auf der Leinwand zu sehen ist. Denn Kenan ist ein defensiver Liberaler, dessen Werte schon ins Fatalistische rutschen, während Nuray eine brennende Regierungsgegnerin, eine Linke durch und durch ist.

Für ihre Rolle als verhinderte Revoluzzerin mit Beinprothese gewann Merve Dizdar in Cannes überraschend den Preis als beste Hauptdarstellerin, obwohl sie eine Nebenrolle spielt. Dizdar ist großartig, doch eigentlich hätte der Preis Sandra Hüller gebührt, aber sowohl Anatomie d’une chute als auch The Zone of Interest gewannen Palmen, was Hüller, die in beiden brilliert, vom Schauspielpreis ausschloss.

About Dry Grasses - Trailer (English Subs)
Unifrance

Zarte queere Erzählung

Wie Kuru Otlar Üstüne spielt auch Koreeda Hirokazus Kaibutsu (Monster) in einer Schule, und wie beim türkischen Kollegen geht es auch bei Koreeda um Missverständnisse zwischen Schülern und Lehrern, die sich zu kleineren Dramen aufbäumen. Das verwinkelte und wendungsreiche Drehbuch von Yûji Sakamoto wurde in Cannes ausgezeichnet, denn ihm gelingt es, ein Gesellschaftspanorama zu stricken, das Klischees großräumig zu umschiffen vermag.

Der Grund für all die Missverständnisse sind schließlich Konventionen, die im streng hierarchisch organisierten Schulwesen Japans, Wahrheiten und Gefühle lange unterdrückt halten. Dass zwischen den zwei Hauptfiguren, zwei Buben, auch eine Liebe wächst, ist nur angedeutet. Trotzdem wurde Kaibutsu auch mit der Queer Palm honoriert. (Valerie Dirk, 20.10.2023)