Wim Wenders Anselm
Zwei Künstler in ihrer aschenen Bibliothek. Anselm Kiefer (li.) und Wim Wenders, der mit zwei Filmen auf der Viennale vertreten ist.
Viennale

Ganz groß und ganz klein gibt sich Wim Wenders dieses Jahr. Groß, geradezu monumental ist sein Porträt des deutschen Ausnahmekünstlers Anselm Kiefer. Schwebende Kamerafahrten gleiten in Anselm – Das Rauschen der Zeit durch Kiefers gigantische Installationen und Lagerhallen, durchsetzt mit einem klassischen Dokumentarmodus: Gespräche mit dem deutschen Künstler, der einer der erfolgreichsten der Nachkriegsgeneration ist.

Anders als seine Zeitgenossen hatte Kiefer keine Berührungsängste im Umgang mit dem deutschen Erbe. 1969 kleidete er in der Performance Besetzungen den Hitlergruß als Erster ins Gewand einer Kunstaktion. Auch in seinem weiteren Schaffen setzt er sich mit dem Nationalsozialismus und urtümlichen Sagen auseinander. Seine präferierten Materialien sind elementar: verbrannte Erde, giftiges Blei. Das brachte ihm den Vorwurf ein, das Ungeheure, das bei ihm immer auch ungeheuer raumgreifend ist, zu mythisieren, anstatt es zu kritisieren. International ging die Rechnung auf, in den USA ist Kiefer etwa einer der meistausgestellten deutschen Künstler.

Verwandte im Geiste

Wim Wenders fühlt sich seinem Landsmann sichtlich verbunden. Nicht nur das Geburtsjahr 1945 teilen sie, auch das Beharren auf der eigenen künstlerischen Vision und den Erfolg in Übersee. Wenders Paris, Texas ist ein Meilenstein des US-Indie-Kinos.

Auch einen Hang zum Pathos teilen sich die beiden Künstler. In Anselm mag man das in den dreidimensionalen Fahrten über Kiefers Land-Art verspüren, unterlegt mit einem elegischen Soundtrack aus raunenden Stimmen, die immer wieder Kiefers poetische Referenzen andeuten. Paul Celans Todesfuge ist nur die bekannteste – und eindrücklichste – davon. Nicht pathosfrei ist auch Kiefers Kindheit, in der Wenders seinen circa zehnjährigen Großneffen Anton in Lederhosen mit streng gescheiteltem Haar Szenen durchleben lässt, die wie ein golden ausgeleuchtetes Szenario aus Michael Hanekes Das weiße Band wirken.

Dann aber sieht man Kiefer auch bei der Schwerstarbeit: Mit dem Flammenwerfer fackelt er Leinwände ab, Quecksilber spritzt auf seine Monumentalgemälde. Dazwischen fährt er Rad in seinen heiligen Hallen.

ANSELM Trailer
Polyfilm Verleih

Arbeit und Poesie

Die strengen Arbeitsroutinen teilt Anselm Kiefer mit dem Protagonisten in Wenders zweitem Festivalfilm des Jahres. In Perfect Days begleitet Wenders einen Toilettenreiniger, der die blitzsauberen und architektonisch ausgefeilten öffentlichen WC-Anlagen in Tokio putzt. Der Mann ist die Verkörperung des Zen. Vielleicht sogar eine Spur zu sehr. Aber da ist sie eben wieder, Wenders mangelnde Scheu vor Pathos. Nur ihm kann man es durchgehen lassen, einen Film Perfect Days zu nennen und Lou Reeds Stimme über freundliche Morgenszenen aus Tokio zu legen. Das kann man kitschig finden oder einfach nur schön.

Unabdingbar ist, dass Wenders mit Kōji Yakusho einen wunderbaren Hauptdarsteller gefunden hat, dem man das poetische Klomann-Dasein durchaus abkauft. Er ist einer jener Menschen, die für manche unsichtbar sind – ohne viele Worte, immer bescheiden im Hintergrund –, für andere aber eine unglaubliche Präsenz und Ruhe ausstrahlen. Er erdet, ebenso wie Perfect Days.

Kōji Yakusho gewann für "Perfect Days" in Cannes den Darstellerpreis.
Polyfilm Verleih

Auch in dem Putzmann meint man einen Seelenverwandten des Regisseurs zu erkennen. Nicht einen, der in den Schichten der Geschichte gräbt, sondern einen, der im Alltäglichen, in Musik, Literatur und Poesie das Leben selbst aufstöbert. (Valerie Dirk, 20.10.2023)