Rolling Stones
Ronnie Wood, Mick Jagger und Keith Richards (v. li.) im Rahmen ihrer "Stones Sixty Europe 2022 Tour" in Brüssel.
REUTERS/YVES HERMAN

Diesen Freitag erscheint mit Hackney Diamonds das heftig beworbene neue Album der Rolling Stones. Von der internationalen Kritik und auch im STANDARD heftig gelobt, soll es an einen der letzten kreativen Höhepunkte der Band erinnern, an Some Girls von 1978. Blicken wir aber nicht nach vorn, sondern etwas zurück. Abgesehen von ihren seit Jahrzehnten gleichbleibenden Setlists bei Konzerten findet man bei den Rolling Stones auch etliche weniger bekannte Schätze. Hier eine kleine, sehr subjektive Rundschau.

"Cocksucker Blues"

Der unheilige Gral der Rolling-Stones-Forscher stammt aus dem Jahr 1970. Damals wollten die Stones dringend aus ihrem Vertrag mit Decca raus, um eine eigene Plattenfirma zu gründen. Sie mussten allerdings noch eine Single für ihr altes Label einspielen. Der akustische Blues mit Mick Jagger an der Gitarre wurde nie offiziell veröffentlicht. Auch der gleichnamige Dokumentarfilm des Schweizers Robert Frank über die US-Tour der Stones 1972 bleibt, mit wenigen Ausnahmen für diverse Filmfestivals, bis heute im Giftschrank. Kunststück: "Oh, where can I get my cock sucked? Where can I get my ass fucked? I may have no money. But I know where to put it every time." Im Film sieht man klassische historische Rock-'n'-Roll-Szenen wie die Einnahme von Drogen oder das Werfen eines Fernsehers vom Balkon eines Hotelzimmers. Dabei lässt sich heute definitiv niemand mehr filmen.

Subtitulos Stones

"You Win Again"

Im Rahmen der Aufnahmesessions zum letzten wirklich großen Album Some Girls von 1978 spielten die Stones auch eine ihrer raren Coverversionen ein. Die Szenen-einer-Ehe-Ballade von Hank Williams, dem wichtigsten Country-Musiker aller Zeiten, aus dem Jahr 1952 passt auch gut zu Mick Jaggers sinistrer Stimmung wegen der damals eingereichten Papiere zur Scheidung von Bianca Jagger. Das ist auch in eigenen Stones-Songs wie Respectable, Lies oder Shattered dokumentiert. Dass die Rolling Stones Country-Musik lieben, war nicht neu, das hauseigene Far Away Eyes hält die Balance zwischen Parodie und echtem Herzschmerz.

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"Country Honk"

Apropos Country-Musik, 1969 war Country Honk eine akustische Vorstufe des späteren Klassikers Honky Tonk Women und auch an Vorbilder wie Hank Williams oder Jimmie Rodgers angelehnt. Dass das Gitarrenriff der endgültigen Fassung zu einem der bekanntesten des Planeten wurde, verdankt sich möglicherweise auch der Tatsache, dass US-Gitarrist Ry Cooder im Hintergrund ein wenig brüderliche Unterstützung beisteuerte.

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"Sleep Tonight"

Die 1980er-Jahre waren nicht gut zu den großen Alten der Rockmusik. Nur Tina Turner durfte sich wirklich freuen. Unter den seither oft wirklich sehr unerheblichen bis schlimmen Alben der Stones sticht Dirty Work von 1986 schon allein wegen des grottigen Neonwurst-Covers heraus. Allerdings singt hier Keith Richards statt des anderweitig beschäftigten Mick Jagger. Ron Wood spielt Schlagzeug – und am Klavier sitzt ein Spezi von Richards. Tom Waits hatte Keith ja auf dem 1985 erschienenen Album Rain Dogs zu Gast. Waits sollte auf Dirty Work ein weiteres Mal gastieren. Der ursprünglich 1963 von Bob & Earl veröffentlichte R-'n'-B-Song Harlem Shuffle mit Tom Waits an den Backing Vocals ist hübsch, aber etwas unglücklich mit den Drums ganz nach vorne und Jagger in den Echoraum gemischt.

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"It Must Be Hell"

Schon 1983 waren Jagger und Richards die besten Feinde. Kurz, Mick wollte Disco tanzen und modern sein, Keith einfach nur rocken. Das Album Undercover of the Night ist also schrecklich geworden. Dennoch blitzt im abschließenden Song It Must Be Hell eines jener klassischen Gitarrenriffs auf, die nur der Mann mit der offenen G-Stimmung auf der Klampfe und ein wenig versetztem Taktgefühl raushauen kann.

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"Scarlet"

Ein Outtake des 1973 erschienenen Album Goats Head Soup bietet einen großen Konkurrenten der Stones im Feld des damals erfundenen Stadionrock auf. Jimmy Page von Led Zeppelin spielt die funky Gitarre, in der Bridge wird allerdings klar, dass der Song damals nicht auf ein Stones-Album kommen konnte. Das klingt – wenn auch nur kurz – einfach zu sehr nach Led Zeppelin. Dennoch eine coole Sache. Mittlerweile ist der Song auf der Deluxe-Version von Goats Head Soup natürlich längst erhältlich.

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"Cherry Oh Baby"

Für das 1976 erschienene, tolle Album Black and Blue wurden nach dem Abgang von Mick Taylor mehrere Gitarristen getestet, darunter auch Jeff Beck oder Harvey Mandel. Schließlich gewann wohl auch auf Drängen von Keith Richards Ron Wood von The Faces. Man braucht nicht nur einen (guten) zweiten Gitarristen, sondern auch einen trink- und dingsfesten Partytiger für die Stunden nach der Arbeit. Die herzzerreißenden Balladen Memory Hotel und Fool to Cry zählen zum Schönsten, das die Stones je aufgenommen haben. Bei Hey Negrita (ja, klar, geht heute gar nicht mehr) und dem fröhlich rumpelnden Reggae Cherry Oh Baby, einer Komposition des jamaikanischen Sängers Eric Donaldson von 1971, konnte man dann ja auch schön gemütlich Sachen rauchen, die hungrig auf eine Tafel Schokolade machen.

Cherry Oh Baby (Remastered)

"Prodigal Son"

Die Rolling Stones waren und sind natürlich nicht nur eine Rock-'n'-Roll-, sondern vor allem auch eine Bluesband. 1968 veröffentlichten sie auf ihrem Meisterwerk Beggar's Banquet nicht nur Göttersongs wie Sympathy for the Devil, No Expectations, Factory Girl oder Salt of the Earth. Auch ein von 1929 stammender Stampfer von US-Bluesmusiker Reverend Robert Wilkins ist darauf enthalten. Die aus der Bibel kommende Geschichte vom verlorenen Sohn ist so zeitlos wie die dringende Version von Jagger und Richards: "Well a poor boy took his father's bread and started down the road. Started down the road, took all he had and started down the road. Goin' out in this world, where God only knows. And that'll be the way to get along."

ABKCOVEVO

"Mannish Boy"

Die Rolling Stones nannten sich nach einem alten Blueshadern des großen Chicago-Blues-Mannes Muddy Waters. Ihr neues Album Hackney Diamonds beenden sie mit dessen Rolling Stone Blues. 1981 besuchten die Stones in Chicago ein Konzert ihres großen Vorbilds. Mick Jagger durfte mit dem Ärschlein wackeln. Muddy Waters klatschte die Band an die Wand. Außerdem war er definitiv besser gekleidet.

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"It's Only Rock 'n' Roll"

Beenden wir die ganze Sache mit einem Signature-Song. 1974 erschien mit It's Only Rock 'n' Roll zwar auch schon ein durchwachsenes Album. Das etwas dumpf rockende, aber nicht sonderlich schwer nachzuspielende Titellied aber hat wohl tausende Nachwuchsbands dazu beflügelt, ebenfalls in die Fußstapfen unserer Helden zu treten. Die komischen Augen der im Video zu sehenden Herrschaften kommen übrigens nicht vom grellen Licht. Vorsicht bei der Berufswahl! Ad multos annos!

The Rolling Stones

(Christian Schachinger, 20.10.2023)