Mit dem Traditional Oh, Freedom und ihrem berühmten glockenhellen Sopran beschwört Joan Baez Freiheit im persönlichen ebenso wie im politischen Sinne. Nach dem Konzertschnipsel mit der jungen Folksängerin tauchen Bilder von Archivboxen und einem sich drehenden Tonband auf, eine Erzählstimme beschwört das Loslassenkönnen.

Baez spricht von der Unzuverlässigkeit und der Selektion unseres Gedächtnisses, das uns in gutem Licht dastehen lässt: "Wir erinnern, woran wir uns erinnern wollen."

Joan Baez in
Hat für die Dokumentation "I Am a Noise" ihre privaten Archive geöffnet und scheut den Blick auf die eigenen Neurosen nicht: die Sängerin und Bürgerrechtsikone Joan Baez.
Viennale

Als Baez wieder im Bild erscheint, ist sie 79 Jahre alt und bereitet sich auf eine Abschiedstournee vor. Mithilfe einer Stimmtrainerin versucht sie, Töne zu treffen, über die sie früher souverän verfügte, die ihr heute aber Mühe bereiten. Inmitten der Kaleidoskopsplitter zu Beginn des Dokumentarfilms Joan Baez – I Am a Noise findet sich auch ein Zitat von Gabriel José García Márquez, in dem der kolumbianische Schriftsteller von drei Leben spricht, die wir alle führen: einem öffentlichen, einem privatem und einem geheimen.

Patti Smith als Produzentin

Den Filmemacherinnen Karen O’Connor, Miri Navasky und Maeve O’Boyle genügen wenige Minuten, um die Fährten ihres meditativen Porträts auszulegen. Im Fokus: eine heute 82-jährige Singer-Songwriterin und Ikone der Bürgerrechtsbewegung, die von Patti Smith, einer Produzentin des Films, ebenso bewundert wird wie von Taylor Swift.

Anders als in Mary Whartons Dokumentarfilm Joan Baez: How Sweet the Sound aus dem Jahr 2009, der sich mit Interviews von Weggefährten mehr an der öffentlichen Karriere entlanghangelte, taucht I Am a Noise ins zutiefst Private ein, rührt an Geheimnissen und zum Teil auch unauflösbaren Ereignissen.

Joan Baez I Am A Noise - Official Trailer
Magnolia Pictures & Magnet Releasing

Mit den obligatorischen Konzertausschnitten und dem Archivmaterial historischer Meilensteine wie dem March on Washington wurde Persönliches verwoben, von Familienfilmen und Tagebuchaufzeichnungen bis zu Therapiesitzungen. Dass dies nicht exhibitionistisch wirkt, liegt an der selbstreflexiven Konstruktion des Films, vor allem aber an Baez selbst. Zwar behält die Künstlerin immer die Deutungshoheit. Die Vergangenheit und die eigenen Neurosen werden aber uneitel, mit Humor und schonungslos selbstreflexiv ausgelotet.

Frühe Erfahrungen als Opfer von Rassismus kommen zur Sprache, aber auch die von der Familie vermittelte Empathie für Schwächere. Sie verstehe sich auf die Kommunikation mit einem großen Publikum, so Baez an einer Stelle, mit Zweierbeziehungen laufe es deutlich weniger gut. Die Ehe zum Aktivisten David Harris und die Liaison mit Bob Dylan fungieren nur als die prominentesten Fallbeispiele. Akzentuiert durch Impressionen der Abschiedstournee führt die Reise immer weiter ins Private, in dem sich stets auch Grundsätzlicheres, Gesellschaftliches spiegelt.

Verdacht auf Missbrauch

Im dunkelsten Kapitel geht es nochmals um die eigene Familie, der Verdacht auf Missbrauch steht im Raum. Auch hier bemüht sich Baez um Wahrheit – um sich einzugestehen, dass sich diese nicht mehr rausfinden lässt.

Wenn Baez zum Abschied im Konzert Fare Thee Well singt, klingt sie wie jemand, der sich mit der Vergangenheit ausgesöhnt hat. Dass die Stimme brüchiger geworden ist, die Töne andere sind als früher, stört nicht im Geringsten, sondern macht Film wie Musik nur schöner. (Karl Gedlicka, 23.10.2023)