Hey, DJ, spiel mir Klinge-linge-ling und Owie-lacht: Cher hat ein Weihnachtsalbum herausgebracht.
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In einigen Supermärkten konnte man auch heuer wieder schon seit Ende August die Weihnachtslebkuchen und die von übriggebliebenen Osterhasen zu Schoko-Nikolos umgebauten Hohlraum-Statuetten bei 35 Grad Außentemperatur mit der Badehose und im verschwitzten T-Shirt kaufen. Das ist der freie Markt. Der reguliert sich bekanntlich von selbst. Wir sind das Volk! Das Volk will im Hochsommer Lebkuchen und Dschingelbells. Apropos, die Ostereier sind zurzeit günstig wie nie! Der freie Markt muss allerdings von Zeit zu Zeit vom Staat gerettet werden, weil es mit der allgemeinen Wirtschaftskompetenz dank abgebrochener BWL-Studien an der Manchester-Universität für Turbokapitalismus auch nicht so weit her ist.

Die US-amerikanische Pop-Veteranin Cher denkt natürlich auch nicht nur rein künstlerisch. Zur Inspiration muss sich speziell auf dem schon seit jeher von Raubrittern dominierten Musikmarkt immer auch finanzielle Transaktion gesellen. Sonst wird das nichts mit dem kulturellen symbolischen Kapital.

Mit ihrem neuesten Album, dem ersten seit fünf Jahren, hat sich Cher laut Eigenbekunden einen Lebenstraum erfüllt und das wichtigste, zweitwichtigste, jedenfalls rein vom Mindset her zentrale Album ihrer Karriere aufgenommen. Einer der ältesten Träume der Menschheit ist neben jenen zu fliegen, eine Familie zu gründen, einen Baum zu pflanzen oder ein Fass aufzumachen, dieser: Jeder Mensch will einmal in seinem Leben ein Weihnachtsalbum aufnehmen.

Cher

Mit 77 hat Cher jedenfalls lange auf die Erfüllung des angeblichen Traums gewartet. 60 Jahre sind seit ihrem ersten Hit I Got You Babe vergangen, 35 Jahre seit If I Could Turn Back Time. Für den Song bestieg sie in einem dazugehörigen legendären Bauch-Beine-Po-Video für MTV die Kanonen des Schlachtschiffs USS Missouri. Ein Vierteljahrhundert ist auch schon wieder seit dem bis heute die Poplandschaft verheerenden frühen Autotune-Blockbuster Believe ins Land gezogen.

Cher stellt dafür einen Christbaum auf die Tanzfläche der Weihnachtsfeier in der Firma. Hier fliegen gleich die Löcher aus dem Käse. Gleich nach It's Raining Men, Hallelujah, dem Bussi von Prince, der Sex Bomb und I'm Too Sexy geht der Saal durch die Decke. Für ihre aktuelle, trotz allem etwas unterkomplex auf rüstige Hi-Energy-Disco aus den 1980er-Jahren machende Single DJ Play a Christmas Song sicherte sie neben ihrem Haus-und-Hof-Produzenten Mark Taylor gleich sechs (!!!) Komponisten den Arbeitsplatz. Mark Taylor betreute neben den Quietschentchen-Hits Believe und Strong Enough von Cher übrigens auch schon ihr 2018 nicht so zwingendes Abba-Coveralbum Dancing Queen und schwere Fälle wie Britney Spears, Kylie Minogue oder diverse Solokarrieren anstrebende Sänger niedergehender Boybands.

Allerdings feiert Cher nicht nur Weihnachten in der Boystown-Disco. Mit ihrem Gast Stevie Wonder probt sie in What Christmas Means to Me auch den fröhlichen Handklatsch-Soul der Swinging Sixties. In Put a Little Holiday in Your Heart wandelt sie gemeinsam mit der fröhlich krähenden Cyndi Lauper (Girls Just Wanna Have Fun) musikalisch ein wenig auf den Spuren von Bruce Springsteen. Dazwischen blueselt und jazzelt es zart.

Cher

Und beim alten, von Cher aseptisch Richtung Musical interpretierten Rock-'n'-Roll-Hadern Run Rudolph Run von Chuck Berry erinnert man sich daran, dass es das Lied auch schon einmal besser gegeben hat, unter anderem von Keith Richards solo im Jahr 1978. Cher war damals 32, Richards 35 Jahre alt. Nur damit man sich auskennt, auf welchem immergrünen Jurassic-Park-Terrain wir uns bewegen.

Cher interpretierte damals auf dem Album This Is Cher neben Der Unmögliche Traum aus dem Musical Der Mann von La Mancha (aber auf Englisch!) auch Bob Dylans Masters of War interessant psychedelisch und kommerziell gefloppt. Keith Richards hatte mit den Rolling Stones zu dieser Zeit gerade das Album Some Girls veröffentlicht. Während der Aufnahmen für das erst 2022 erschienene Album Live at the El Mocambo der Stones war er im Frühjahr 1978 in Kanada wegen des Besitzes von sehr viel Koks und noch mehr Heroin verhaftet worden, ihm drohte eine siebenjährige Freiheitsstrafe.

Am Ende ist alles gut ausgegangen. Cher und Keith Richards sind beide noch da. Die eine weniger überzeugend, der andere veröffentlicht zeitgleich das Stones-Album Hackney Diamonds. Alles hängt mit allem zusammen. Over and out. (Christian Schachinger, 20.10.2023)