Peter Paul Wiplinger ist Schriftsteller und Fotograf und unliebsamer Chronist.
Tania Raschied

Der Pfarrer von Haslach, erzählt Peter Paul Wiplinger, war ein ruppiger Bauernsohn, bei dem hat man als Ministrant schnell seine Watsch’n gekriegt. Aber er war mutig und unerschrocken, "granitschädlert", wie man im Mühlviertel sagt. Zu Kriegsende hat er am Kirchturm die weiße Fahne gehisst, als einige noch an den "Endsieg" glaubten, dafür sollte er erschossen werden. Nachher wollte man sich nicht mehr daran erinnern, obwohl viele empört waren: den eigenen Pfarrer mit dem Erschießen bedrohen!

In der offiziellen Gemeindechronik wird man diese Episode nicht finden, da ist wenig Konkretes über Krieg und NS-Zeit zu lesen. Dabei war Haslach, sagt Wiplinger, ein "Obernazinest", und dass man nachher nichts davon wissen wollte, versteht sich von selbst. Als wär’ da nie was gewesen. "Wenn ich denke, unser Mechaniker im Ort, der uns nachher die Fahrräder repariert hat und immer freundlich war, der hat als Illegaler Bomben geschmissen." Auch ins Wohnzimmer der Wiplingers flog damals ein Sprengkörper. Wiplingers Vater war bis 1938 Bürgermeister von Haslach gewesen, die Eltern waren als Nazigegner bekannt. Bei der sogenannten "Volksabstimmung" am 10. April haben sie als Einzige im Ort mit Nein gestimmt. Der Vater wurde später aufgrund einer Denunziation verhaftet und musste sich monatelang in Urfahr eine Zelle mit einem Mörder teilen.

Unliebsamer Chronist

In einem seiner Prosatexte, Der Denunziant, erzählt Peter Paul Wiplinger vom "Vernaderer", der spätabends, wenn in manchen Häusern Feindsender gehört wurden, über den Marktplatz schlich. Er hatte immer jemanden in Verdacht, um am nächsten Tag Meldung zu erstatten. Dieser "Pflicht", schreibt Wiplinger, kam er gehorsam und begeistert nach. Im Grunde war er "ein Niemand, ein erfolgloser Cafetier mit einem kleinen Café in einem kleinen Ort". Man könnte sagen, so etwas wie der Prototyp des österreichischen Nazis.

Peter Paul Wiplinger ist Schriftsteller und Fotograf und unliebsamer Chronist. Sein Werk ist vielfältig: Lyrik, Erzählungen, Essays. Man kann ihn als einen der letzten Vertreter der engagierten Literatur bezeichnen, einer Textsorte, die ein wenig aus der Mode gekommen scheint. Den Autor stört das nicht. In dicken Ordnern verwahrt er die Ergebnisse jahrzehntelanger Arbeit: historische Materialien, unzählige Fotos, über 6000 Gedichte. Und er beschäftigt sich, unermüdlich, mit seinem Heimatort Haslach an der Mühl. Die Vergangenheit ruhen lassen kommt für ihn nicht infrage.

Da war zum Beispiel der einbeinige Gemeindebedienstete, der die Hitlerjugend befehligte. Kurz vor Kriegsende verfolgte er Wiplingers Vater humpelnd bis in den Stegmüller-Wald, weil dieser kein Hehl daraus machte, dass er die Befreiung herbeisehne. "Ich erschieß dich, Wiplinger!", soll er gerufen und ihm die Pistole an den Kopf gehalten haben.

Subtile Kontinuitäten

Nachher saßen Männer wie er wieder auf ihren angestammten Posten. Man müsse auch verzeihen können, einen Schlussstrich ziehen, hat Wiplingers Vater gesagt, der 1945 wieder Bürgermeister wurde. Der "einbeinige ehemals fanatische Nazi" wurde gar Gemeindesekretär – Wiplingers Vater selbst hatte ihn eingestellt. Es musste ja, hat er später erklärt, irgendwie weitergehen.

Haslach ist eine kleine Marktgemeinde im Oberen Mühlviertel. Einst bekannt für seine Textilindustrie, tut sich heute wenig in dem 2600-Einwohner-Ort. Neben einem Weberei- und Nähmaschinenmuseum gibt es ein Heimat-, ein Kaufmanns- und ein Schulmuseum, viel gut verpackte Geschichte.

Für Außenstehende wirkt der ganze Ort museal. Man begegnet kaum Menschen auf dem Marktplatz. Dennoch hat Haslach ein reges Vereinsleben. Wenn die Bürgergarde beim jährlichen Schützenfest paradiert, sind Jung und Alt auf den Beinen. Man bewundert die historischen Uniformen: hellbrauner Waffenrock, stahlblaue Hose, Tschako mit einem Doppeladler, Rosshaarbusch, Panzerkette und Löwenköpfen.

Dazu Fahnen und Kanonen aus dem 19. Jahrhundert. Offiziere und Mannschaft tragen Korb- und einfache Säbel, Werndl- oder Remington-Gewehre, Bajonette. Traditionsbewusstsein wird in Haslach großgeschrieben. Nur mit der Zeitgeschichte tut man sich ein wenig schwer.

Haslach zählt zu jenen Gemeinden, in denen Hitler auch nach 1945 noch lange Ehrenbürger war. 1988 wurde ein Antrag auf Aberkennung von der damaligen ÖVP-Mehrheit im Gemeinderat abgelehnt. "Wir haben andere Sorgen, als eine solche Lappalie hochzuspielen", erklärte der damalige Bürgermeister, außerdem habe er "sein eigenes Geschichtsverständnis", ließ er wissen. Erst 2004 konnte sich der Gemeinderat zu einem einstimmigen Beschluss durchringen und strich den Namen Hitler aus der Ehrenbürgerliste.

Für Peter Paul Wiplinger ist Haslach "ein Paradigma für viele Orte in Österreich. Und für das beschämende Verhalten der Gesellschaft sowie der ganzen Republik." Die Kriegszeit wurde im Ort noch lange ungeniert glorifiziert. Einmal verschlug es Wiplinger in ein Wirtshaus "unten beim Lanitzbachl", dort hatten sich "Ehemalige" versammelt, die lautstark über ihre "Heldentaten" schwadronierten.

Im Jahr 2014 konnte, nachdem die Gemeinde abgelehnt hatte, die Tafel für die Haslacher Euthanasieopfer enthüllt werden – auf Kirchengrund.

Hellhörig

Wiplinger wurde hellhörig, als er am Nebentisch Wörter wie "Bandenbekämpfung" fallen hörte und einen fremden Namen, über den er allerdings Bescheid wusste. Der Peršmanhov in Bad Eisenkappel. Dort wurden am 25. April 1945 zwei slowenische Familien, vier Erwachsene und sieben Kinder, ermordet. Das Massaker, begangen von einer Spezialeinheit eines SS-Polizeiregiments, wurde nie geahndet.

Als Kind, erinnert sich Wiplinger, musste er sich jeden Abend vor sein Bett hinknien und Gott um Verzeihung für seine Sünden bitten. "Man muss sich das vorstellen, 1945, als hätte es da keine größeren Sünden als die eines Sechsjährigen gegeben!" Warum dieses Schuldbewusstsein bei einfachen Menschen, fragt er, während die Täter nichts bereuen müssen? Vom Schrecken der Konzentrationslager erfuhr er erstmals, als er die Erinnerungen eines Jesuitenpaters, Christus in Dachau, auf dem Ladentisch des elterlichen Geschäfts liegen sah.

Blinder Glaube

Das Buch war wie ein Erweckungserlebnis. Dennoch, wie geht das zusammen: der blinde Glaube, der blinden Gehorsam erfordert? Wie viel Anteil hat die Religion daran, dass der Nationalsozialismus funktionieren konnte? Im Römerbrief des Apostels Paulus heißt es: "Jedermann ordne sich der obrigkeitlichen Gewalt unter, denn es gibt keine Gewalt, die nicht von Gott ist."

Später besuchte Wiplinger das Konzentrationslager Mauthausen und beschloss, Schriftsteller zu werden. Und dann war noch etwas: Eine Freundin hatte ihn in ihr Elternhaus in der Steiermark eingeladen. Ihr Vater, ein frühpensionierter Polizist, saß am Küchentisch und schärfte sein Rasiermesser an einem Lederriemen. Dazu rief er im Takt: "A Neger, a Jud, a Neger, a Jud ..." Die Freundin schwieg betreten, ihre Brüder lachten. Wiplinger stand vom Tisch auf und ging.

Hartnäckiges Schweigen

Das ist lange her, mag man sagen. Doch in Wiplingers Stimme schwingt immer noch Empörung mit. Sein halbes Leben hat er gegen das Schweigen, gegen die Ignoranz angekämpft. "Darüber sprach man nicht. Das überging man. Davon war nicht die Rede", heißt es in einem Erinnerungstext über seinen Heimatort. Im Schulunterricht kamen die Hussiten vor und die Rosenberger, jenes einst im Mühlviertel so bestimmende böhmische Adelsgeschlecht. Aber die Nazis und der Krieg? Wenn der Autor seine 88-jährige Schwester zu bestimmten Vorgängen befragen will, bekommt er zur Antwort: "Ich darf es dir nicht sagen." Als sei das immer noch verboten. Eine Art Rechnitz-Syndrom.

Nur wie geht man damit um, wenn niemand etwas sagen will und auch die Opfer keine Stimme mehr haben? Selbst die, die überlebt haben, haben nachher geschwiegen. Zum Beispiel jene Frau, von der man wusste, dass sie im KZ gewesen war. Sie war stumm zurückgekommen, es hatte ihr regelrecht die Sprache verschlagen oder, wie Wiplinger schreibt, sie hatte sie "verloren".

Er kann sich noch gut an die Spernbauer Minni erinnern, eine einfache Bauarbeiterin, ein "Mannweib". Auf dem Marktplatz soll sie "Der Hitler ist ein Verbrecher!" geschrien haben. Als sie 1945 zurückkam, hatte sie nicht mehr geredet. Und es hatte sie niemand gefragt. Wörter wie Mauthausen oder Hartheim sind in der Öffentlichkeit nie gefallen.

"Heimat-Brief"

Seit 1960 lebt Wiplinger in Wien. Ein zwiespältiges Verhältnis verbindet ihn mit seiner Heimatgemeinde. Dass man es dort lieber sähe, "der Wiplinger würde endlich eine Ruh geben", ist nicht verwunderlich. Man macht sich keine Freunde, wenn man in die Tiefe der Heimatgeschichte bohrt.

1987, zur Waldheim-Zeit, meldete sich ein "Dr. K. Z." bei ihm: "... ich inspiziere die Gasleitungen für das Vergasen ..." Absender: die Postleitzahl von Haslach. Wiplinger hat das Schreiben in seinem Archiv unter dem Stichwort "Heimat-Brief" abgelegt. Noch vor zwei Jahren wurde er auf Facebook "zurechtgewiesen", er solle nicht die Großväter-Generation als Nazis beschimpfen, schließlich hätten sie "die Heimat verteidigt".

Wenn Kameradschaftsbund und Bürgergarde zu Allerheiligen wieder zum Totengedenken ausrücken, werden sie seit einigen Jahren mit unliebsamen Wahrheiten konfrontiert. "Den Opfern der nationalsozialistischen Euthanasie aus Haslach" steht auf einer Messingplatte zu lesen, daneben zehn Namen. Für sie hatte Wiplinger schon 2008 ein Gedenkzeichen gefordert, eine Tafel am ehemaligen Krankenhaus von Haslach, von wo die später Ermordeten nach Niedernhart abtransportiert wurden. Die Gemeinde lehnte ab. 2014 konnte Wiplinger den Pfarrer überzeugen, der ließ einen Gedenkstein vor dem Kriegerdenkmal zu. Das Kriegerdenkmal steht auf Kirchengrund.

Gescheiter, als alle glaubten

Gutmütige "Narren" seien sie gewesen, "Depperln", wie damals gesagt wurde. Als sie aus dem Krankenhaus abgeholt wurden, sollen sie sich ans Fenstergitter geklammert und geschrien haben. Es hieß, dass sie den Staat viel Geld kosten würden. Bei der Denkmaleinweihung fiel Wiplinger eine unbekannte Frau um den Hals und bedankte sich, dass ihre Großmutter nun endlich ein Begräbnis bekommen habe. Die Großmutter: eine alte Frau, die nach einem Schlaganfall als "unwertes Leben" galt.

Einer, der damals den Behörden entkam, war der Schopper Loisl, ein sogenanntes "Mohnlutscher-Kind", das man mit zu viel Mohn ruhiggestellt hatte. Vielleicht sei es auch an seiner Sprachbehinderung gelegen, dass man ihn für "eingeschränkt" hielt. Er sei aber viel gescheiter gewesen, sagt Wiplinger, als alle glaubten. Gegen Ende des Krieges zerschlug er das Schaufenster am Postamt und spuckte auf das dahinter angebrachte große Hitler-Bild. Dabei schrie er triumphierend: "Hitler hin!" Die Nazis haben intensiv, aber vergeblich nach ihm gesucht. Versteckt in einer Gartenhütte hat der Schopper überlebt, weil die Mathie Mariedl, eine Gastwirtin, ihn heimlich versorgte. Solche Menschen hat es in Haslach also auch gegeben.

Peter Paul Wiplinger, "Haslach (Be-)Denken". € 20,– / 216 S. Edition Tarantel, Wien 2023. Bestellbar unter tarantel-wien @gmx.at
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Staub aufwirbeln

2022 wurde vor dem Kriegerdenkmal ein weiterer Gedenkstein in den Boden eingelassen. Er erinnert an den Deserteur Josef Steffelbauer, der als 25-Jähriger "auf der Flucht" erschossen wurde. Leberbauchschuss, Verblutung. So steht es im Totenschein, ausgestellt 1943 in Augsburg. Steffelbauer ist einer der vielen, die einfach aus der Geschichte gefallen sind und irgendwann namenlos wurden. Denn über ihn wurde nie geredet, obwohl er aus Wiplingers Verwandtschaft stammte. Erst als Peter Paul Wiplinger auf alten Familienfotos eine ihm unbekannte Person entdeckte, erfuhr er, dass die "Tante Paula" noch ein drittes Kind gehabt hatte. Josef, Fabriksarbeiter, ledig. "Bevor ich einen erschieße", soll er gesagt haben, "lasse ich mich lieber selber erschießen."

Der Gedenkstein für die Euthanasieopfer und der Stein für den Deserteur Steffelbauer sind so gesetzt, dass sie einem, wenn man zum Kriegerdenkmal geht, direkt im Weg liegen, man muss über sie drübersteigen. "Das hat uns der Wiplinger zu Fleiß gemacht", soll ein Hauptmann der Bürgergarde gesagt haben. "Der Wiplinger wirbelt immer nur Staub auf."

Zu den Aufgaben der Bürgergarde, kann man auf deren Homepage lesen, gehören das "Ausrücken bei kirchlichen und weltlichen Festen" und das Totengedenken zu Allerheiligen. Dann wird mit einer Ehrenwache vor dem Kriegerdenkmal der "verstorbenen Krieger und Kameraden" gedacht. Von Deserteuren und Euthanasieopfern ist nicht die Rede.

Erinnerungskultur

Immerhin ist Haslach heute dank Wiplingers Initiative zu einem Erinnerungs- und Gedenkort geworden. In welcher Gemeinde wird schon vor einem Kriegerdenkmal an erschossene Deserteure und Ermordete der NS-Euthanasie erinnert? Wenn man allerdings mehr über die Opfer erfahren möchte, kommt man nicht weit. Wiplingers heuer erschienenes Haslach (Be-)Denken-Buch liegt auf der Gemeinde nicht auf. Man bekommt es in ganz Haslach nicht zu kaufen. Was nützen da Gedenktafeln, wenn die Informationen dazu fehlen? Wäre das nicht ein Anlass, in der ehemaligen Textilfabrik Vonwiller, heute "Kulturzentrum Haslach", einen Dokumentationsraum für die Opfer einzurichten?

Die meisten Bewohner, ist Wiplinger überzeugt, wollen auch weiterhin "nichts mehr von den alten Geschichten hören". Und die Jungen? In insgesamt 20 Ländern ist Wiplinger in Schulen aufgetreten, sogar in Moskau. Aber kein einziges Mal noch in der Schule in Haslach.

Dort ist er vielen ein Stachel im Fleisch, weil er nichts vergisst. Wenn Wiplinger von Haslach erzählt, kommt er tatsächlich vom Hundertsten ins Tausendste – und am Ende noch einmal auf den einbeinigen Gemeindesekretär zurück, jenen Fanatiker, der zu Kriegsende Wiplingers Vater erschießen wollte. Irgendwann in den 1950er-Jahren wollte sich Wiplinger jun. auf der Gemeinde ein Schriftstück beglaubigen lassen: "So eine Krixikraxi-Schrift!", hat ihn der Sekretär angeherrscht. "Geh wieder heim!" – "Du alter Nazi", gab ihm Wiplinger zurück, "du hast mir gar nichts zu melden!" Zu Hause wurde er dafür gerügt: "So was sagt man nicht!" (Gerhard Zeillinger, 26.10.2023)