Das Foto zeigt den Schriftsteller (in der Mitte) im Jahr 2010 beim der 20-Jahr-Feier von Bernard-Henri Lévys Zeitschrift "La regle du jeu".
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Un occident kidnappé – mit diesem Essay brachte Milan Kundera 1983 das Streben nach Freiheit in den Ländern Zentraleuropas wieder auf die politische Tagesordnung, zumindest in Frankreich und den USA. Der entführte Westen: Die Tragödie Mitteleuropas erscheint nun erstmals in Buchform auf Deutsch und gewinnt im Kampf der Ukraine gegen die russische Invasion unerwartet an Aktualität.

1983, im vierten Jahrzehnt nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, hatte sich das Europa diesseits des Eisernen Vorhangs in Freiheit und trotz gelegentlicher Krisen wachsendem Wohlstand gut eingerichtet. Der Kalte Krieg schien durch Abkommen zur Rüstungskontrolle eingehegt, Entspannungspolitik schuf Vertrauen zwischen den Regierenden, der Osthandel aussichtsreiche Geschäfte für die Wirtschaft. Der Bevölkerung im von der Sowjetunion okkupierten Zentraleuropa blieben die Brosamen, "menschliche Erleichterungen", etwas mehr Reisefreiheit und mehr Konsum.

Politische Prophetie

Der Preis dafür war hoch. Er legte den Menschen im "Ostblock" nahe, spätestens nach der gewaltsamen Niederschlagung des Prager Frühlings 1968 alle Hoffnungen auf substanzielle gesellschaftliche Veränderungen vorerst fahrenzulassen. Die Grenze, die Europa in der Mitte durchschnitt, hatte sich zur schmerzlichen Realität des Kontinents verfestigt. War das, was nun wirklich war, vor dem Hintergrund einer möglichen Eskalation bis zum Nuklearkrieg nicht auch vernünftig? Fand der mitteleuropäische Anspruch auf Selbstbestimmung nicht seine "realpolitische" Grenze an der Einflusssphäre und den "Sicherheitsinteressen" des russischen Imperiums?

Milan Kundera (1929–2023), der große Romancier der tschechischen Literatur, der seit 1975 im französischen Exil lebte, widerspricht 1983 vehement dem Versuch, sowjetische Herrschaftsansprüche zu rationalisieren, wendet sich gegen ein imperiales Denken, das die kleinen Nationen im Zentrum Europas unter dem Mantel der Friedenssicherung zu Spielsteinen fremder Interessen macht. Der Essay Un occident kidnappé – ou la tragédie de l’Europe centrale in der Zeitschrift Le débat gehörte zu den folgenreichsten politischen Texten des Jahrzehnts. Mit dem Ende der sowjetischen Okkupation ist er keineswegs obsolet. Die russische Invasion der Ukraine gibt einzelnen Passagen rückwirkend den Charakter einer politischen Prophetie.

Radikaler Gegensatz

In Frankreich war Kundera gerade dabei, abgeschnitten von seinen tschechischen Wurzeln, zu einem französischen Schriftsteller zu werden. Sein Antitotalitarismus inspirierte eine ganze Generation postmoderner Denker. 1984 in den USA erschienen, hatte der Text unmittelbare Wirkung auf den außenpolitischen Diskurs. Die widerstrebenden "kleinen Nationen" betrachtete man dort nun nicht mehr als "Satelliten" Moskaus, sondern als das kommende "Neue Europa".

Die deutschsprachige Rezeption des Mitteleuropa-Themas beschränkte sich seinerzeit weitgehend auf die einschlägige Historikerzunft mit der Ausnahme vereinzelter konservativer Zirkel. Resonanz fand Kundera in Deutschland dagegen am anderen Ende des politischen Spektrums. Der entführte Westen erschien 1984 erstmals in Kommune, der Zeitschrift einer Gruppe vormals marxistischer, jedoch antisowjetischer Intellektueller.

Herausgeber der Kommune waren es, die später die prowestliche Außenpolitik der Grünen in kommenden Regierungsbeteiligungen formulierten – im radikalen Gegensatz zu den pazifistischen und neutralistischen Wurzeln der Partei. Der christ- wie sozialdemokratische Mainstream in Deutschland setzte, im Grunde bis zur gegenwärtigen "Zeitenwende", im Ernstfall lieber auf den direkten Draht in den Kreml.

Gedächtnislandschaft

Kunderas Essay hat dazu beigetragen, die "mental map" des Kontinents zu verändern. Die Ereignisse von 1989 und ihre Folgen konnte er nicht voraussehen. Aber die "glückliche Vermählung von Kultur und Leben", die "den mitteleuropäischen Revolten eine unnachahmliche Schönheit" verleiht, beflügelte seinen Möglichkeitssinn noch in den tristesten Tagen der kommunistischen Gerontokratie. Mitteleuropa ist für Kundera kein Staat, sondern "eine Kultur oder ein Schicksal. Seine Grenzen sind imaginär und müssen mit jeder neuen historischen Situation neu gezogen werden."

In seinem Essay erhebt er Anklage gegen den, wenn man so will, westlichen Westen, jene "Tragödie Mitteleuropas" unter der sowjetischen Okkupation lange ignoriert zu haben. Er wirft ihm vor, Geschichte und Vielfalt des zentraleuropäischen Raums, seine Verwurzelung in der europäischen Kultur, seine intellektuellen und kulturellen Leistungen, seine Freiheit der "russischen Zivilisation" auszuliefern und sich dabei selbst von der Geschichte der "kreativen Explosion" in Kunst, Kultur und Wissenschaft zu absentieren, die jene "maximale Vielfalt auf minimalem Raum" zuerst im Habsburgerreich, dann in den jungen Nationalstaaten der Zwischenkriegszeit hervorgebracht hat.

Negation des Westens

Die "Zivilisation des russischen Totalitarismus" war für Kundera die "radikale Negation des Westens". Gegensätze zur im Westen historisch entstandenen Fähigkeit, kulturelle Diversität und weltanschauliche Differenzen auszuhalten und auszutragen, gründen für ihn tiefer als antikommunistische Systemkritik. Er führt sie zurück bis zur Spaltung zwischen lateinischer und orthodoxer Kirche. Die Trennung religiöser und weltlicher Macht in der okzidentalen Geschichte hatte in der Neuzeit einerseits die Freiheit des Einzelnen hervorgebracht, andererseits die Notwendigkeit geschaffen, Politik säkular und nicht in einer übergeschichtlichen Sendung zu begründen. Die orthodoxe Konstellation im Verhältnis von Kirche und Staat dagegen befördere die imperiale Reichsidee. Das "zentralisierende Russland" wandle "mit furchtbarer Entschlossenheit alle Nationen seines Reichs in ein einziges russisches Volk" um. In einer Fußnote vor 40 Jahren befürchtet Kundera das von der Weltöffentlichkeit unbemerkte Verschwinden der Ukraine. Heute stemmt sich das Land unter ungeheuren Verlusten, aber mit absehbarem Erfolg gegen den Zugriff einer "russischen Welt" und strebt als multiethnischer, multikultureller und multireligiöser Staat nach Europa. (Uwe Mattheiß, 23.10.2023)