Auch ihm gebührt ein Platz in Evgenij Dajnovs Buch: Jimi Hendrix.
APA/AFP/Svenska Dagbladet/-

"Ich wurde", schreibt Evgenij Dajnov eingangs seines in mehrfacher Hinsicht rahmensprengenden musiksoziologischen Monumentalwerks, "in eine Welt voller Hoffnung und Sonnenlicht geboren". Das ist für einen 1958 in Bulgarien zur Welt gekommenen Politikwissenschafter eine aufs Erste unerwartete Aussage, die belegt, dass der "Eiserne Vorhang" nicht die undurchlässige Systemtrennlinie war, als die er meist vorgestellt wird.

Dass Adoleszenzen in den 60er- und 70er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in Ost- und Westeuropa durchaus vergleichbar sind, ist eine der vielen Einsichten, die Dajnov in seinem schillernden Mosaik aus Philosophiegeschichte, Kulturwissenschaft und Blues-, Rock- und Jazzhistorie darbietet, das den 1962er-Hit Love Me Do der Beatles als tönenden Rohdiamanten ausstellt und eine sozialgeschichtliche Partitur über sechs Jahrzehnte legt.

Von Marcuse zu Kurt Cobain

Zu vermelden ist der der Wiener Edition Konturen und ihrem engagierten Verleger zu verdankende Eintritt eines fundiert neben dem Studium in seinem Herkunftsland bereits vor 1989 auch in England und den USA ausgebildeten Autors in den deutschsprachigen Raum, der als zweitberuflicher Rockmusiker auch die Schreibhand eines versierten Blue-Note-Gitarristen zu führen weiß. Die Länge eines Songs, der die Fab Four ins Universum starten ließ, reicht bei weitem nicht, um Dajnovs Opus magnum rezensierend auch nur annähernd gerecht zu werden.

Deshalb in zwölftaktiger Kurzform: Herbert Marcuse, Frankfurter Schule, die Neue Linke in den USA, Bürgerrechtsbewegung und Dylan, Hannah Arendt und Eichmann. Der Sound des Weltraumzeitalters in Woodstock hippiehaft geerdet. Wladimir Wyssozki, der russische Lennon, der mehr Songs geschrieben hat als die Stones und die Beatles zusammen, am Ende gegen das Sowjetsystem verlor, aber als Legende weiterlebt.

In Prag die Plastic People of the Universe und Frank-Zappa-Fan Václav Havel kontra den kaltherzigen Kapitalpragmatiker Václav Klaus. Die ungarische Blues- und die jugoslawische Punk-Szene. Soziologische Chansons mit Michel Foucault in Paris. Elvis Presleys Tod 1977, die englischen Punkaufstände gegen Margaret Thatcher und der Mord an John Lennon als Menetekel im Übergang in die neoliberalen 1980er-Jahre.

Neureiche Wendeprofiteure

Der Fall der Mauer: grenzenlose Konsum- und Reisefreiheit für neureiche Wendeprofiteure. Mit Walkman und Internet in die Smartphone-Einsamkeit, in der eine neue Rechte den Rock kapert und Donald Trump die Republikaner rechts rollt. Dazwischen Hommagen an die Ritter der Gitarre: Chuck Berry, John Lee Hooker, Jimi Hendrix, Jimmy Page, David Bowie und Kurt Cobain, deren Glanz im Licht von Dajnovs osteuropäischem Horizont leicht talmihaft schimmert.

Evgenij Dajnovs Geschichte über sechzig Jahre Politik und Rock ’n’ Roll ist eine zeitgenössische, Europa und die USA soziologisch tiefschürfend reflektierende Variante in Buchform von Jon Hendricks’ legendärem Liedzyklus Evolution of the Blues und endet wie dieser in der Coda illusionslos. Das Individuum, konstatiert Dajnov, das in der sonnigen Welt von Love Me Do geboren wurde, findet sich in der dunklen Welt von Donald Trump und seinesgleichen sowie angesichts von Covid und Ukrainekrieg wieder: "Die Stammesgemeinschaften des 21. Jahrhunderts können kaum mehr als Wut und Groll hervorbringen, geschweige denn gemeinsam geteilte Zustände wie Anerkennung und Glück." (Walter Famler, 23.10.2023)