Aufrecht und aufgeweckt: Ilse Helbich im Hochsommer in ihrem Garten.
(c) mia eidlhuber

Ilse Helbich ruft an. Seit längerem habe ich ihre Handynummer eingespeichert, aber jedes Mal wieder, wenn ihr Name auf dem Display auftaucht, bin ich verblüfft. Wie bitte geht das? Wie macht sie das? Am 22. Oktober wird die Frau, die mit achtzig ihren ersten Roman veröffentlicht hat und im hohen Alter scheinbar so mühelos Kontakt halten kann, hundert Jahre auf der Welt sein.

Bescheidenes Phänomen

"Du bist ein Phänomen", diesen Satz sage ich zu ihr und bin mit dieser Feststellung nicht alleine. Beim letzten Zusammentreffen Ende Juli, als ich es wieder einmal sagen musste, hat sie lachend angemerkt: "Für mich selbst leider weniger!" Aber jetzt steht es schwarz auf weiß im Klappentext ihres neuen Erzählbands Wie das Leben so spielt, der Anfang Oktober im Droschl-Verlag anlässlich ihres 100. Geburtstags erschienen ist.

"Wie das Leben so spielt" könnte auch als Motto über ihrer gesamten Biografie stehen, obwohl sie dann, in ihren späteren Jahrzehnten, das Leben mehrheitlich selbst in die Hand genommen hat – und das mit einer großen Selbstbestimmtheit, die für Frauen ihrer Generation noch gar nicht selbstverständlich war. Ihre mittlerweile dutzend Bücher zeugen nicht zuletzt auch davon, allen voran ihr Debütroman Schwalbenschrift, der im Jahr 2003 erschienen ist und innerhalb der österreichischen Literaturlandschaft einen kleinen Sensationserfolg markiert.

Unkonventionelle Wege

Helbich, 1923 in Wien geboren, stammt aus einer begüterten Unternehmerfamilie, sie studierte Germanistik, wurde Verlagskauffrau und war dann, weil es für Frauen ihres Jahrgangs damals üblich war, erst einmal drei Jahrzehnte verheiratet und Mutter von fünf Kindern – bevor sie mit zunehmendem Alter zunehmend unkonventionelle Wege beschritt. Sie lässt sich scheiden, arbeitet als Journalistin, übt sich in Spiritualität und wird schließlich Schriftstellerin.

"Die hundert Jahre hängen sich schon an", sagt Helbich beim Besuch im Hochsommer, gerade noch 99-jährig, und sitzt dabei sehr aufrecht, aufgeweckt und zurechtgemacht bei Kaffee und Kuchen an ihrem hübsch gedeckten Tisch. Eigentlich ist es ein privater Besuch, aber ihr bevorstehender Geburtstag, das große Jubiläum, steht irgendwie schon feierlich im Raum. Sich mit Ilse Helbich zu unterhalten ist eine äußerst kurzweilige und anregende Angelegenheit. Sie erzählt von Franz Schuh, den sie im Radio gehört hat, einem Brief, den ihr Peter Handke, dem sie ihr neues Buch hat zukommen lassen, aus Frankreich geschickt hat, oder auch darüber, was sie gerade liest. Besser gesagt vorgelesen bekommt. Einmal die Woche kommt eine junge Frau, die, verrät Helbich mit einem breiten Lachen in ihrem schönen Faltengesicht, eigentlich ihre Steuern machen sollte, aber die bleiben meist liegen, weil: "Wir lesen lieber!" So sagt sie das. Und was zum Beispiel? Immer wieder das Tao-Te-King, die wichtigste Schriftensammlung des Taoismus, kommentiert von David Steindl-Rast, mit dem sie schon seit Jahrzehnten in einem ausdauernden wie intellektuellen Austausch steht, derzeit auch Kierkegaard über das Absurde ("das passt gut zum Tao-Te-King") oder auch das Märchen von der Goldenen Gans der Gebrüder Grimm. "Nur nichts mehr mit 700 Seiten", es frustriert sie, wenn sie immer nur auf Seite siebzig "herumtümpelt", wie Helbich das formuliert.

Meditativer Blick

Jemand, der so lange auf der Welt ist, hat einen anderen Blick auf die Dinge und das Leben. Den von Ilse Helbich könnte man ruhig einen meditativen Blick nennen. Den breitet sie aus, eindringlich und gelassen, auch über die drei Kurzgeschichten ihres neuen Erzählbandes, in denen es immer um Leben und Schicksal geht. Etwa das einer rachsüchtigen Haushälterin eines Professorenpaares oder später das einer älteren Frau, die selbstbestimmt und nicht mehr alleine leben will.

In Helbichs Texten geht es um Aggregatzustände von Außenseiter-Menschen, schlichtweg um Existenzielles. Und – Vorsicht, Spoiler! "In der ersten Geschichte kommen gleich zwei Selbstmorde und ein Mord vor", sagt Helbich wie über sich selbst überrascht. Wie das Leben so spielt ist aber das Gegenteil einer blutrünstigen Kriminalgeschichte. Alles spielt sich in der Provinz ab, im beschaulich dörflichen Leben auf dem Land. Warum ausgerechnet diese Geschichten, fragt sich Helbich: "Sie sind mir passiert." Noch immer denke sie viel über ihr Schreiben nach. Helbich ist vom Kaffeetisch aufgestanden, geht am Stock und holt ein druckfrisches Erstexemplar ihres neuen Buchs. "Ich finde es ein bisschen kundenwerbend", sagt sie kritisch und meint die gelbe Schrift auf dem hübschen Cover.

Aus betreuungstechnischen Gründen lebt Helbich mittlerweile wieder mehr in Wien als in Schönberg am Kamp, wo sie sehr spät noch ein Haus aus- und umgebaut hat. Auch dieser Lebensabschnitt wurde zu ihrer Literatur (Das Haus). Bis dato war sie immer noch mobil, macht Ausflüge mit einem ihrer längst erwachsenen Kinder, Enkel oder Freunden. Neulich war sie mit ihrem Sohn sogar zweimal am Brunnenmarkt. Ja, am Brunnenmarkt, sagt sie, lacht ihr herrlich dunkles Lachen und lässt keinen Funken Zweifel daran, wie hochpolitisch jemand so hochbetagt noch sein kann.

Ilse Helbich, "Wie das Leben so spielt". € 20,– / 80 Seiten. Droschl, Graz 2023

Offenes Ohr

Mit fast hundert kann die Autorin erstaunlich gut zuhören, manchmal sagt sie, bitte lauter, oder nach einer guten Stunde auch: "Jetzt werd ich langsam müde". Aber kurz noch: Mit dem Autor Franz Schuh saß sie übrigens einmal auf einem Podium. Irgendwann hat er zu ihr gesagt: "Sie sind doch sehr alt, wie stehen Sie zu Ihrem eigenen Tod?" Ilse Helbich hat versucht, ihm ihre Sicht der Dinge zu erklären, aber gleich dazugesagt, dass ihm ihre Ausführungen gar nichts nützen werden, weil sie überzeugt ist, dass jeder seinen eigenen Tod, seine eigene Art zu sterben, bekommt.

Ilse Helbich verliert nie ihren roten Faden und nie das Interesse an den Menschen und ihren Geschichten. Auch wenn die Geschichten von hier nach dort hüpfen. Scheinbar mit Leichtigkeit erinnert sie Begebenheiten und Umstände, die man bei einem vergangenen Gespräch kurz angemerkt hat, reagiert auf das, was man ihr vor Monaten einmal erzählt hat, stellt Fragen und öffnet neue Zugänge und Perspektiven. Was für ein Gedächtnis, was für ein Geist.

Empathie und Erfahrung

Den zu beherrschen, sagt sie, bleibt eine Aufgabe, etwas, das es ständig zu lernen gibt, auch für sie, deren fantastische Gedanken gerne losgaloppieren und sich nicht immer in literarische Geschichten gießen lassen. Trotz ihrer Freude an den vielen kleinen Dingen, Erlebnissen und Begegnungen, für die sie, wie sie sagt, dankbar ist, gibt es auch die Durststrecken, Stunden, in denen sie nur liegt und nichts passiert. "Leider kann man nicht stundenlang meditieren", sagt sie mit der ihr eigenen Empathie und Erfahrung. Aber sie arbeite immer noch.

"Ich mache Gedichte", erzählt sie am Ende des Besuchs, "ganz kurze. Die merke ich mir." Ilse Helbich meint auswendig im Kopf, bis jemand kommt und es aufschreibt. Wir sitzen da, schauen einander an, sie kann Gedanken lesen und lacht: "Heute habe ich keines im Kopf." Ich hätte ihr gerne eines aufgeschrieben. Wir holen es nach. (Mia Eidlhuber, 22.10.2023)