Adalbert Stifter, Blick auf Kremsmünster und Umgebung, 1823
Pflanzen, Zweige, Steine, Erden: Adalbert Stifter feiert das Geheimnisvolle der "Naturdinge", am liebsten war ihm aber die gezähmte Natur.
OÖ. Landesmuseum

Was schuldet der Mensch den Steinen? Über Jahrmillionen ruhten Felsen unter der Erde, dann stemmten Arbeiter mit einem Mal riesige Blöcke heraus, nur um sie ein paar Jahrzehnte später wieder zu verwerfen?" Der Anthropologe João denkt laut nach. Vor Publikum. Rob, ein irischer Künstler, hat sich mit einem verlassenen Steinbruch in Estremoz beschäftigt. Die Zufahrtsstraße ist knöcheltief mit weißem Marmorstaub bedeckt. In dem 40 Meter nach unten reichenden Tagebau sammelte sich seit seiner Schließung Wasser, Fische wuchsen heran. Rob tauchte, kommunizierte mit Eidechsen, Fröschen, Schlangen, redete mit Steinen, die, aus der Tiefe geschlagen, sich nun nutzlos übereinandertürmen, sammelte Arbeitsgeräte, Schuhe, Eisendrähte, fotografierte, filmte und stellt seine Funde aus.

Mensch, Natur, Lebewesen

Aufgefordert, Adalbert Stifters Aktualität zu entdecken, forsche ich in Portugal dem Verhältnis von Mensch, Natur und den darin lebenden Wesen nach. Lese Geschichten, die seine Theorien zur Besserung der Menschen ausführen, erspüre in Erzählungen mit märchenhaften Anklängen seine Ideen. Unter einem Pfefferbaum, dessen Zweige mit parallel angeordneten ovalen Blättern im Luftzug hin- und herschwingen, denke ich an die Espe aus Hochwald. Warum ihre Blätter flattern, erklärt darin eine Legende. Dies sei der einzige Baum, der sich Gott nicht gebeugt habe und deshalb auf ewig zittern müsse.

Dann korrigiert der Erzähler, er sei einem falschen Glauben erlegen, es gebe eine rationale Erklärung: Weil die Stängel länger seien als an anderen Bäumen, versetze Wind die Blätter in Bewegung. Stifter zeigt damit, dass das Projizieren vom Menschen auf die Natur und das Erklären des Menschen durch die Natur ein Vorgang ist, der nichts über das Natürliche selbst aussagt, sondern über den, der davon erzählt.

Dennoch liebt der Autor Analogien von Mensch und Natur. Doch die ist nicht nur sanft, sondern bringt Gewitter, Katastrophen, Grausamkeit mit sich. Am liebsten ist Stifter daher gezähmte Natur. Der Gärtner als Herrscher über eingezäunte Flächen verkörpert das vorbildliche Individuum. Doch es ist die Besiedlung durch den Menschen, sein Unterwerfungswahn, die unser natürliches Umfeld derart zerstörten.

Die Schutzbefohlenen

Rund 500 Marmorsteinbrüche gibt es im Alentejo entlang eines 40 mal acht Kilometer messenden Flözes. Ansonsten ist die Landschaft von Korkeichen, Olivenbäumen, Schweinezucht und Schafen geprägt. Die bitterarme Gegend begann um 1900 mit der Erschließung des Vorkommens. Händisch und mit Ochsen wurden die Blöcke aus der Tiefe geschleppt. Maschinen beschleunigten später die Produktion, bis in den 1990ern die Absatzmärkte einbrachen. Heute ist nur mehr ein Zehntel der Steinbrüche aktiv, die Landschaft aber bleibt für immer verändert. Blöcke und Bruchstücke, zu meterhohen Haufen getürmt, sind weithin sichtbar. Rob, der irische Künstler, dokumentiert, wie sich zumindest die Wasserreservoirs nach der Ausschlachtung der Steinbrüche langsam regenerieren.

Stifters Verehrung des Waldes setzt zu einem Zeitpunkt ein, als die Bestände stark gerodet werden. Seine Idealisierung stellt die Kehrseite rationaler Forstwirtschaft, der Beherrschung und Verwertung des Waldbestands dar. Natur ist nicht dazu da, eine göttliche Vorsehung zu illustrieren oder zu exemplifizieren, sie bestätigt mittlerweile weniger das gute Werk Gottes, sondern das schlechte des Menschen. Von der Vorstellung, dass eine höhere Ordnung über allen Erscheinungen stehe, kann sich Stifter trotz naturwissenschaftlicher Studien nie lösen.

Unterhaltungen eines Patriarchen

So sind seine Naturdarstellungen oft Unterhaltungen, die ein Patriarch, von denen es in Stifters Erzählungen geradezu wimmelt, mit natürlichen Erscheinungen führt und die er seinen Schützlingen beispielhaft vorführt. Auch von Schutzbefohlenen, meist Kindern oder Frauen, wimmelt es in seinen Geschichten. Männliche Mitspieler sind meist treue Diener, die die Illusion bekräftigen, dass durch Menschlichkeit allein Herrschaftsverhältnisse und Hierarchien für Untergebene annehmbar seien. Die Strukturen, die Stifters Ansichten zugrunde liegen, bestätigen den Status quo, thematisieren sie beeinflussende politische und soziale Voraussetzungen nicht.

Auf einem Bildschirm der Ausstellung entdecke ich eine weibliche Gestalt, schwarz gekleidet, inmitten hoch aufragender rötlichweißer Marmortürme. Sie tanzt. Stumm. Ohne Musik. Die Bewegungen ihrer Arme, ihrer Finger, ihrer Schultern, ihrer Hüften, ihrer Füße stammen aus dem Repertoire des Flamenco. Es sei schwierig, erzählt Phyllis, als schwarze Frau in die geschlossenen Kreise der traditionellen Performer einzudringen. Flamenco liege seit langem in den Händen der andalusischen Roma. Die Dänin hat in Madrid als Tänzerin gelebt und Verbindungen des Tanzes zur Schwarzen Geschichte erforscht. Phyllis spricht mit dem Marmor über Bewegungen ihres geschmeidigen Körpers, und der irische Künstler hält die Kamera drauf.

Das exotisch Schöne

Außenseiter werden bei Stifter umgeformt. Am liebsten aber die Außenseiterin, eine auch äußerlich Verschiedene, mit dunklerer Haut, die nicht eingeordnet und deshalb verlockend erscheint. In Der Waldbrunnen tauchen gleich zwei davon auf. Eine trägt Merkmale damaliger "Zigeunerin"-Romantik und bleibt stumm. Als Vorbild für eine weitere exotische Schöne in dieser Geschichte diente Stifter möglicherweise die Sklavin Mahbuba, die Fürst Pückler-Muskau 1837 in Kairo kaufte, auf Reisen mitnahm und in Wien in Adelskreisen als abessinische Prinzessin präsentierte. Sie starb jung. Stifter mag von dieser fremden Frau gehört haben. In Waldbrunnen wird ein braunes Mädchen behutsam in Richtung Gesellschaft erzogen. Die Verbindung von wilder Substanz und sittlicher Bildung macht sie zur Schönheit. Zur Göttin, auf die die Gattin des Erzählers eifersüchtig reagiert.

In der Binnengeschichte trifft ein Großvater mit zwei Enkeln auf Frauen, die mit Frauen leben: Großmutter sitzt mit ihrer Spindel zu Hause und spinnt. Die dunkle Enkelin, ihr Teint wird unter anderem mit der Farbe von Glockenmetall verglichen, bringt Hierarchien durcheinander: Ich bin die Mutter der Großmutter, ich bin ihre Schwester, ich bin ihre Obrigkeit, ich bin ihre Magd. Dieses Mädchen, anfangs vom Lehrer mit den Worten boshaft, hässlich, abscheulich, aggressiv, verwahrlost, wild, hergelaufen beschrieben, wird zum Material einer allmählichen Erziehung.

Von der Göttin zur Gattin

Erst will sie nicht folgen, denn sie sorgt für die alte Frau im Haus, wo Gegenstände sich verrücken, wo Trophäen der Bildung zu bloßen Objekten werden. In diesem Haus ist die Wildnis nicht ausgesperrt, Zweige, Federn, Rinden liegen drinnen herum, stecken im Haar der Großmutter. Die Sprache des Mädchens verweigert sich der Grammatik, zerfällt in einzelne Worte: Worte dein, Herz hinein, Mädchen, Mädchen, Mädchen, bleib bei ihr, schmücke sie, nähre sie, schlafe da, immer nah, alle fort, himmelhoch, Sonne noch, Jana, Jana, Jana.

Der weise Großvater, ein ehemaliger Beamter, wird sie veredeln. Sein Erfolg zeigt sich, als Verse, die bedeutende Männer schrieben, von dem braunen Mädchen aufgesagt werden und eine Ordnung bestätigen, die in ihrem heruntergekommenen Haus nicht zu erreichen ist. Was immer man dort hinbringt, wird hexenhaft verkehrt. Das Buch hängt von der Decke, geheime Zeichen befinden sich an Wänden. Die unter der Aufsicht des weisen Mannes am Ende zur Schönheit Gewordene ist schließlich bereit, seinen Nachkommen zu heiraten. Die dunkle Frau, von einem Mann kultiviert, ist das intensivste Wunschbild Stifters. Ihre Zähmung höchster Liebesausdruck. Als Gattin darf sie weiterhin mit Worten spielen. Aber es sind Gedichtchen, es werden keine großen Werke daraus, sie sind nicht einmal niedergeschrieben, sondern bleiben Gerücht. In der Erzählung Katzensilber aber verschwindet das wilde Mädchen nach einer kurzen Annäherung wieder. Im realen Leben gelingt Stifters Erziehungsarbeit ebenfalls nicht, die Ziehtochter bleibt unbändig, widersetzt sich familiären Normen und bringt sich um.

Stifters Ideale einer geordneten Natur und einer sittlichen Lebensweise der sich in ihr bewegenden Menschen sind Fluchten, Rückzugsgebiete vor einer zunehmend unruhiger werdenden politischen Realität. Nichts gegen Reservate, in denen Flora und Fauna sich regenerieren, aber sie allein taugen nicht dazu, Zerstörungen zu reparieren. Natur musste bislang nur so weit verstanden sein, um sie dienstbar zu machen, sodass die Ausbeute möglichst umfassend gelang.

Zerstörtes Miteinander

Für die Industrie ist Natur eine Art Plantage, also denaturiert. Einfache Kreislaufsysteme, wie das Montadosystem im Alentejo, entstanden durch menschliches Know-how über Jahrhunderte, garantieren bis heute Biodiversität, ein Ineinanderwirken von Korkeichen, Schweinen, Schafen, Hecken, Pilzen. Dort, wo Abläufe beschleunigt, Wachstum maximiert, mehr Ertrag ermöglicht werden sollte, in Portugal zum Beispiel die rasche Produktion von Holz durch Eukalyptuspflanzungen, wird das Miteinander zerstört. Ihr Wasserverbrauch ist so hoch, dass andere Pflanzen keine Chance haben zu überleben, Tiere werden vertrieben. Dazu kommt die hohe Entflammbarkeit dieser Monokulturen, Brände breiten sich rasend schnell aus, während Korkeichen kaum brennen.

Naturschwärmerei, heute wie damals, geht Hand in Hand mit der Ausbeutung der Natur. Flucht in die Natur ist als Protest gegen eine sich verändernde Wirklichkeit zu sehen. Wenn wir uns nach der Natur in den Texten Stifters sehnen, sehnen wir uns, so wie er, nicht nach einem vergangenen Zustand, sondern nach einem, der nie existierte. Das Ursprüngliche gibt es nicht. Der Anthropozentrismus war ein Irrtum.

Teil eines Rettungsplans

Dennoch kann Versprachlichung Teil eines Rettungsplans sein, wie Judith Schalansky, eine der ersten Vertreterinnen des deutschsprachigen "Nature-Writing", meint. Die Sichtbarmachung eines ansonsten unbenannten und deshalb als unwichtig erachteten Raumes könne Bewusstsein schaffen und Änderungen bewirken. Aufgrund aktueller naturwissenschaftlicher Erkenntnisse können wir heute also viel mehr als damals über die Welt erzählen, die uns umgibt, von Stachelrochen, die rechnen, von Oktopussen, die ihre Gehirnkapazitäten und Sinne auf mehrere Tentakel verteilen.

Wir sollten abkommen vom Maßstab des Menschenähnlichen, könnten uns als "humus" denken, nicht als "homo", weil wir aus der Erde kommen, wie Donna Haraway vorschlägt. Es ist höchste Zeit, sich den Pflanzen, der Luft, dem Wasser, den Tieren auf andere Weisen zu nähern. Ihnen endlich zuzuhören.

Als wir die Ausstellung mit dem Video der inmitten von Marmor tanzenden Phyllis verlassen, stürzt nach wochenlanger Trockenheit ein schwerer Gewitterregen vom Himmel. Wir treten ins Freie, berauschen uns an erfrischenden Gerüchen. Als ein fünf Zentimeter großer Käfer über die mit weißem Marmor gepflasterte Terrasse kriecht, zucke ich zurück. (Sabine Scholl, 22.10.2023)