So rätselhaft wie ihre Figuren: Inès Bayard.
Paula Winkler

Mit ihrem spektakulären Debütroman Scham, in dem sie eine Fallstudie zur MeToo-Debatte geliefert hat, fand die junge Autorin Inès Bayard, die unter Pseudonym schreibt und so rätselhaft ist wie ihre Figuren, in Frankreich viel Beachtung. Ein Roman über eine erfolgreiche Anlageberaterin, deren heile Welt nach der brutalen Vergewaltigung durch ihren Chef zerbirst. Zwischen Selbstekel und Aggressionsschüben seziert sie ihren Absturz ins Bodenlose bis hin zum dramatischen Finale.

Großstadtflair

Nun erscheint mit Steglitz ihr zweiter Roman auf Deutsch. Der Titel verweist auf Berlins bürgerliches Viertel mit Großstadtflair und bietet ein ganz andersgeartetes Gruppenbild mit Dame mit zerfließenden Konturen an der Grenze von Wahn und Wirklichkeit, Traumgeschehen und Realität mit Anleihen bei Schnitzlers Traumnovelle.

Die Autorin, die selbst in Berlin lebt, hat den Lockdown im beschaulichen Steglitz mit langen Wanderungen im Viertel verbracht, das sie für faszinierend hält, weil die Energie sich von Straße zu Straße verändere und es verschiedene Lebensformen vereine.

Suche nach geheimen Zonen

Sie liebt die deutschsprachige Literatur, Elfriede Jelinek, Marlen Haushofer, Ingeborg Bachmann, vor allem verehrt sie ganz altmodisch Heinrich Böll mit seinen subversiven Madonnen Leni, Marie und Katharina Blum. Das verhängnisvolle Schicksal dieser Frauenfiguren, ihre Geschichten von Einsamkeit und Untergang haben sie tief geprägt und ermutigt, sich selbst auf die Suche nach Zugängen zu geheimen Zonen zu begeben.

Aber zunächst beginnt alles ganz harmlos: Wieder geht es um eine langweilige Bilderbuchehe, in die der Schrecken tritt. Inès Bayard lässt ihre Protagonistin mit dem schönen Böll’schen Vornamen Leni durch Steglitz’ Einkaufsmeilen gehen, aber auch auf einsamen Wegen durch Zonen, von denen man nicht weiß, ob sie Traumgeschehen oder Erinnerung sind.

Leni, meist sprachlos, lebt ein ereignisloses, eher freudloses Eheleben an der Seite von Ivan – Referenz an Malina? –, einem mürrisch-gleichgültigen Architekten, bis der Gatte von einer Dienstreise nach Rügen nicht zurückkehrt und Lenis Bruder damit beauftragt, die Ehe abzuwickeln und sie aus der Wohnung zu entfernen.

Abwesend

Leni, die am liebsten am Fenster sitzt und dem Schneetreiben zuschaut, hatte zunehmend verstört gewirkt, seit ein Polizeikommissar in der Wohnung aufgetaucht war, um Anwohner nach Schüssen in der Nachbarschaft zu befragen. In ihren Verstörungen wirkt sie immer abwesender, sie verliert sich erst in ihrem Viertel und schließlich selbst, bis sich die Türen zum Wahn immer mehr öffnen. Zuletzt wird es in ihrem Herzen so kalt wie im verschneiten Berlin. Diese Leni ist eine Kleist-Figur, sie gleicht Musils Tonka, verloren und traumwandlerisch, und bringt auch uns aus der Komfortzone des Lebens. Eine rätselhafte Frau, ein rätselhaftes Geschehen, das uns ratlos zurücklässt.

Reizvoll wird das Ganze durch die Verquickung von exakten topografischen Details mit surrealen Elementen, die den Leser immer wieder aufs Neue verunsichern und wie Leni an der eigenen Wahrnehmung zweifeln lassen.

Von Kafka hat die Autorin gelernt, die Grenzen der realen Wahrnehmung immer wieder ein Stück weit aufzuweichen, zu verschieben. Bekannte Figuren verändern ihr Verhalten abrupt, andere meint sie schon einmal gesehen zu haben, kann sich aber nicht erinnern. Manchmal fragt sie sich, ob sie "überhaupt schon jemals dieses Zimmer verlassen" hat.

Inès Bayard, "Steglitz". Aus dem Französischen von Theresa Benkert. € 22,70 / 188 Seiten. Zsolnay, Wien 2023
Zsolnay

Unsichtbare Barrieren

Zweifel nisten sich ein, das Gefühl einer hereinbrechenden Gefahr, unsichtbare Barrieren: Eine Nachbarin rennt mit einem "merkwürdigen Lachen" die Treppe hinunter, eine grell aufgemachte, angetrunkene Frau in einer Bar behauptet, ihre Mutter Rosa zu sein, eine "skelettartige" schwarze Gestalt entpuppt sich im nächtlichen Park als ihr längst begrabener Vater Christian, kenntlich an seinem Flachmann. Nach einem kurzen Wortwechsel erschießt er sich vor ihren Augen. Ob die Figuren real oder fiktiv sind, Schemen oder Angstprojektionen, ob es Kindheitstraumata sind, die Leni so destabilisiert haben, dass sie sich in der Realität nicht mehr zurechtfindet, bleibt ungeklärt.

Auch die unerwartete Auflösung der Handlung am Schluss wirft nur neue Fragen auf und lässt die Lesenden im gleichen Nebel und in der gleichen Eiseskälte zurück, wie sie über der Stadt liegen.

Eine verstörende Lektüre über Innenräume einer verlorenen Seele, voller literarischer Anspielungen und Märchenelemente und von großer poetischer Kraft. (Barbara Machui, 21.10.2023)