Anna Netrebko Wiener Staatsoper
Anna Netrebko baute das Konzert zur halbszenischen Aktion aus, drehte sich um oder wandte sich mit schreckensweiten Augen ab. Pavel Nebolsin begleitete sie am Klavier.
Wiener Staatsoper / Michael Pöhn

Ein Buchtipp vorab? Daniel Kehlmanns neuer Roman ist großartig. In Lichtspiel schildert der Schriftsteller den Fall des Starregisseurs G. W. Pabst, der in einer Mischung aus Trägheit und Tollpatschigkeit – und um seine Kunst weiter in exzellenter Weise ausüben zu können – in eine Kollaboration mit dem totalitären Naziregime gerät. Anlässlich des Erscheinens von der Süddeutschen Zeitung befragt, ob er aktuell einen Auftritt von Anna Netrebko besuchen würde, antwortete Kehlmann: "Um das Verhalten von Anna Netrebko zu beurteilen, weiß ich zu wenig über ihre persönliche Situation." Habe sie Familie in Russland? Werde sie unter Druck gesetzt? "Ich kenne die Zwänge nicht, unter denen Netrebko womöglich steht."

Am Donnerstagabend gab Netrebko ein Solistenkonzert in der Wiener Staatsoper; seit dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sind die Auftritte der Starsopranistin auch ein Politikum. War Netrebko zuvor Putin zu nahe? Hat sie sich ausreichend vom Krieg distanziert? Warum hat sie sich 2014 bei ihrer Spende für das beschädigte Opernhaus von Donezk mit neurussischer Fahne und einem Separatistenführer fotografieren lassen? Diese Fragen werden in einem Land, das sich auch im nahenden Winter großteils von russischem Gas erwärmen lässt, heiß diskutiert.

Vor der Staatsoper demonstrierte eine kleine Gruppe mit ukrainischen Fahnen gegen Netrebko, drinnen präsentierte die Künstlerin russisches Repertoire. Ein trotziges Statement? Ausdruck von Heimweh? Oder beides? Zu den Klängen Rimski-Korsakows, Rachmaninows und Tschaikowskis sang Netrebko (mit Pavel Nebolsins geschmeidiger Unterstützung am Klavier) von Nymphen und Nachtigallen, von Liebe und vom Leid in einer Zwangsehe. Der üppige, raumgreifende, ebenmäßige Sopran der 52-Jährigen füllte dabei das Haus und die Herzen des Publikums.

Worte sind eigentlich überflüssig

Netrebkos Gesang präferiert den Gleitflug, ihre Passion gilt den Kantilenen. Worte sind bei ihr eigentlich überflüssig, auf einem langen Vokal – wie in Rimski-Korsakows Die Nachtigall und die Rose – kann sie in eine sirenenhafte Trance fallen. Überhaupt baute Netrebko das Solistenkonzert zu einer halbszenischen Aktion aus, bespielte den überdeckten Orchestergraben, drehte sich um oder wandte sich mit schreckensweiten Augen ab: eine Operndiva auch auf dem Terrain des Liedgesangs. Zum Höhepunkt des Abends wurde die Fantasie einer jungen Frau über ihr sexuelles Erwachen, Rimski-Korsakows Traum einer Sommernacht.

Es wäre eine schöne, verbindende Geste gewesen, wenn Netrebko als Zugabe ein Lied auf Deutsch gesungen hätte – schließlich ist die Russin seit 17 Jahren auch österreichische Staatsbürgerin. Diese Geste erfolgte nicht. Schade. Ob in 100 Jahren ein Roman über Netrebko geschrieben werden wird, über den Crash der Opernkönigin mit der Weltpolitik und ihren Kurzzeitwechsel vom Podest an den Pranger? Hoffentlich wird er so spannend und lehrreich sein wie Kehlmanns Meisterwerk. (Stefan Ender, 20.10.2023)