Israelische Soldaten in einem gepanzerten Fahrzeug.
Israelische Soldaten auf Panzer-Patrouillen in der evakuierten Stadt Kiryat Shmona.
EPA/ATEF SAFADI

Tel Aviv – In Erwartung einer großen Bodenoffensive Israels im Gazastreifen zur Bekämpfung der Hamas drehen Iran-nahe Akteure in der Region an der Eskalationsspirale.

Am Freitag ordnete Israel die Evakuierung einer Stadt unweit der Grenze zum Libanon an. Die rund 25.000 Einwohnerinnen und Einwohner der Stadt Kiryat Shmona werden in staatlich finanzierte Unterkünfte gebracht. Zudem suchte man im Norden Israels nach einem "eingedrungenen Terroristen". Auch wurden Schusswechsel an der Grenze gemeldet sowie israelischer Beschuss im Südlibanon, wo die vom Iran unterstützte Hisbollah das Sagen hat.

Doch nicht nur die Lage im Norden schürt Angst vor einem Mehrfrontenkrieg. Die US-Marine will im Roten Meer Drohnen und drei Raketen abgefangen haben, deren Ziel möglicherweise Israel war. Ihr Absender: die dem Iran nahestehenden Huthis im Jemen. Und auch in Syrien und im Irak wurden US-Stützpunkte von proiranische Milizen mit Drohnen attackiert. Es scheine, als ob der Iran und seine Partner das Verhalten der USA als Einmischung werteten, so die US-Denkfabrik für Kriegsstudien ISW.

Verzögerte Hilfe für Gaza

Angesichts der israelischen Luftschläge – zuletzt auf eine griechisch-orthodoxe Kirche in Gaza-Stadt, in der 18 Christen Zuflucht gesucht hatten – und der wohl unmittelbar bevorstehenden Invasion im Gazastreifen spitzt sich auch dort die ohnehin katastrophale Lage für die Menschen zu. Zwar hatte sich Israel auf Druck der USA bereiterklärt, Hilfslieferungen aus Ägypten zuzulassen. In einem ersten Schritt sollten am Freitag 20 Lkws in den Gazastreifen fahren dürfen – viel zu wenige, monieren NGOs. Doch am Freitag dauerten die Verhandlungen über die Hilfstransporte bis in die Abendstunden an.

Zahlreiche hochrangige Akteure sind in den vergangenen Tagen in die Konfliktregion gereist, allen voran US-Präsident Joe Biden. Sie erklärten sich mit pathetischen Worten solidarisch mit dem angegriffenen Israel. Mit im Gepäck hatten sie aber auch die Botschaft oder eher die Forderung, die leidenden Menschen im Gazastreifen nicht zu vergessen. Die Hamas sei nicht das palästinensische Volk, wurde betont.

Ringen um Details bei Hilfslieferungen

Das zeigte offenbar Wirkung. In Ägypten starteten die Vorbereitungen zur Öffnung des Grenzübergangs Rafah, der einzige des Landes zum Gazastreifen. Kairo hat den Auftrag erteilt, die massiven Betonblöcke, die den Übergang auf ägyptischer Seite seit gut einer Woche versperren, wieder zu entfernen.

Schon am Donnerstag gab es Medienberichte, denen zufolge Ägypten dabei ist, die durch israelische Luftangriffe beschädigten Straßen in den Gazastreifen hinein zu reparieren. Erst dann könnten Lkws mit Hilfsgütern in das Palästinensergebiet fahren. Doch selbst damit ist der Weg für Hilfslieferungen nicht frei, denn zwischen Israel, Ägypten und Uno herrschte bis Redaktionsschluss am Freitag keine Einigkeit über die Bedingungen der humanitären Transporte.

Aus dem Büro von UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths hieß es, die erste Lieferung würde frühestens am Samstag beginnen. Er befand sich wie UN-Generalsekretär António Guterres in Ägypten, um die Hilfe zu koordinieren. Außerdem verhandle der neue US-Sondergesandte für humanitäre Fragen im Nahen Osten, David Satterfield, noch mit Israel und Ägypten über die genauen Modalitäten, erklärte das US-Außenministerium am Freitag. Israel verlangte offenbar weitere Garantien.

Angst vor Fluchtbewegung

Seit mehreren Tagen schon stauen sich vor dem Grenzübergang Rafah Hilfskonvois. Ägypten auf der einen Seite befürchtet eine massive Fluchtbewegung aus Gaza auf die Halbinsel Sinai – und dass diese Menschen dann nicht mehr zurückkehren können. Das Land selbst ist wirtschaftlich massiv angeschlagen und wäre mit der Versorgung von tausenden oder zehntausenden Flüchtlingen überfordert. Außerdem, so die Sorge, könnten sich über diesen Weg Extremisten ins Land hineinschmuggeln.

Auf israelischer Seite wiederum hat man Bedenken, dass mittels dieser Hilfskonvois heimlich auch Waffen an die Hamas geliefert werden könnten. Oder dass die humanitären Güter gar nicht bei der Zivilbevölkerung, sondern bei den Terroristen landen. Für Biden wäre das eine rote Linie, in dem Fall würden die Lieferungen sofort gestoppt.

Geiselbefreiung als Ziel

Schließlich war die Totalblockade des Gazastreifens durch Israel und der daraus resultierende Mangel an Essen, Wasser und Strom ja auch als Druckmittel gedacht, um die mehr als 200 Geiseln freizubekommen. "Kein Stromschalter wird umgelegt, kein Wasserhahn geöffnet und kein Treibstofflaster fährt rein, bis die israelischen Geiseln nach Hause zurückgekehrt sind", schrieb etwa Energieminister Israel Katz schon vergangene Woche auf X (früher Twitter). Doch diese – sowieso nicht erfolgreiche – Strategie ließ sich aufgrund des internationalen Drucks nicht aufrechterhalten.

Die Lage im Gazastreifen ist dramatisch: Angesichts der anhaltenden israelischen Luftangriffe und des Evakuierungsbefehls vor der bevorstehenden Bodenoffensive haben rund die Hälfte der 2,3 Millionen Bewohner des Gazastreifens ihre Bleibe verloren. Die Menschen berichten von katastrophalen Zuständen: Lebensmittel, Wasser, Treibstoff und Medikamente werden knapp.

Gedränge beim Besuch von UN-Generalsekretär António Guterres (unten links) am Grenzübergang Rafah.
Gedränge beim Besuch von UN-Generalsekretär António Guterres (unten links) am Grenzübergang Rafah.
REUTERS/AMR ABDALLAH DALSH

Die Uno und Hilfsorganisationen haben die Einigung bezüglich eines humanitären Korridors für Hilfsgüter begrüßt. Guterres hielt am Freitag beim Grenzübergang Rafah eine Pressekonferenz ab und erklärte, dass die Hilfe so bald wie möglich anlaufen müsse. "Wir arbeiten mit allen Parteien daran, dass sich alle auf Rahmenbedingungen für die Hilfslieferungen einigen können."

Friedensgipfel in Kairo

Guterres soll am Samstag in Kairo an einem Nahost-Friedensgipfel teilnehmen. Neben dem Gastgeber und ägyptischen Staatschef Abdelfattah al-Sisi werden unter anderem auch der Präsident der Palästinenserbehörde Mahmud Abbas, König Abdullah von Jordanien, der Emir von Katar, der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan, der saudische Kronprinz Mohammed bin Salman, EU-Ratspräsident Charles Michel und weitere europäische Spitzenpolitiker erwartet. Ob sie alle kommen werden, war noch unklar, ebenso, was genau dort besprochen werden soll. (Kim Son Hoang, Flora Mory, 20.10.2023)