Sokrates war ein unbequemer Zeitgenosse. Mit seiner unablässigen Fragerei nach der Wahrheit, nach dem guten Leben, nach der Gerechtigkeit und so weiter ging er seinen Mitbürgern im antiken Athen gehörig auf die Nerven. Vor allem deshalb, weil er ihnen die Mühe des Selberdenkens abverlangte, wobei seine Gesprächspartner sich dann allzu oft – oder eigentlich immer – in Widersprüche verwickelten. Gerade mit Blick auf das scheinbar Selbstverständliche entlarvte Sokrates unser Wissen und Verstehen als inkohärentes Stückwerk.

Es ist bekannt, wie die Sache ausging: Man machte Sokrates den Prozess – wegen Gottlosigkeit und ideologischer Verführung der Jugend. Sokrates wies beide Vorwürfe zurück, seine Unschuld beteuernd. Die Möglichkeit eines Freispruchs unter der Bedingung, sich "still und ruhig" zu verhalten, also die Mitmenschen nicht mehr mit philosophischen Fragen zu belästigen, lehnte er jedoch ab: Nicht nur würde er so seinen göttlichen Auftrag verraten, die menschliche Erkenntnis zu vermehren, sondern ein Leben, das nicht einer Prüfung durch die Vernunft unterzogen werde, sei für den Menschen überhaupt nichts lebenswert.

Büste von Sokrates
Das unerforschte Leben ist nicht lebenswert, so der antike Philosoph Sokrates.
Sting (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Socrates Louvre.jpg), "Socrates Louvre", https://creativecommons.org/licenses/by-sa/2.5/legalcode

Sokrates hatte mit dieser vielzitierten Sentenz das gelebte Leben des einzelnen Menschen im Auge, doch für uns Heutige spricht nichts dagegen, den Fokus auf das Leben überhaupt zu erweitern und in sokratischem Geiste die urphilosophische "Was ist"-Frage zu stellen: Was ist Leben? Und glücklicherweise haben wir Institutionen, deren staatlicher Auftrag es ist, Fragen wie diesen nachzugehen: neben den Universitäten, Museen und weiteren Bildungseinrichtungen auch die Gelehrtengesellschaften, wie etwa die Österreichische Akademie der Wissenschaften (ÖAW). Die Mitglieder der Jungen Akademie der ÖAW konnten sohin das Wesen des Lebens zum Thema ihrer alljährlichen interdisziplinären Konferenz, des Science Day, machen, ohne wie Sokrates um Leib und Leben fürchten zu müssen.

Plakat
Ernst Haeckels "Monophyletischer Stammbaum der Organismen" (1866).
Public Domain

Allerdings sahen sie sich in der Erforschung der Frage "Was ist Leben?'" gleich mit der nächsten Frage konfrontiert, nämlich: welches Leben eigentlich? Die Molekularbiologin, die die RNA-Transkription in Zellen untersucht, beschäftigt sich mit dem Leben in einer anderen Bedeutung als der Archäologe, der die Lebensweise prähistorischer menschlicher Gesellschaften rekonstruiert, oder die Philosophin, die über den Sinn des Lebens nachdenkt. Handelt es sich überhaupt um ein und dasselbe Phänomen? Oder ist Leben ein mehrdeutiger Begriff? Lassen sich die verschiedenen Perspektiven zu einem Gesamtbild verbinden?

Sechs Perspektiven auf das Leben

Wir wollten das herausfinden und haben bei unserem Science Day sechs verschiedene Disziplinen zusammengebracht: die Kognitionsbiologie, die Philosophie, die Architekturgeschichte, die Literaturwissenschaft, die Mikrobiologie und die Chemie, jeweils vertreten durch ein Mitglied der Jungen Akademie.

Intelligentes Leben: Dinosaurier, wir und die Vögel

Wie ist intelligentes Leben auf unserem Planeten entstanden? Und was ist intelligentes Leben überhaupt? Wir denken hier natürlich gleich an uns selbst, an unsere menschliche Intelligenz; doch sind wir, wie Eröffnungsrednerin Alice Auersperg betonte, mitnichten die einzigen intelligenten Lebewesen auf der Erde. Die Kognitionsbiologin, die als Assoziierte Professorin am Messerli-Institut der Veterinärmedizinischen Universität Wien tätig ist, weiß aus ihrer langjährigen Arbeit mit indonesischen Goffin-Kakadus von deren erstaunlichen Fähigkeiten zu berichten, etwa wenn es darum geht, mittels verschiedener Werkzeuge an ein Stück Futter zu gelangen und hierbei gegebenenfalls auch mit Artgenossen zu kooperieren.

Kakadu Figaro fertigt selbst die Werkzeuge, die er benötigt, um ans Futter zu kommen.
Bene Croy

Intelligenz ist die Fähigkeit, sich durch Informationsverarbeitung und Wissenserwerb flexibel an die Komplexität der Umwelt anzupassen, und diese Fähigkeit kann ganz verschiedene Formen annehmen. Entstanden ist sie nach Meinung der Mehrheit der Kognitionsbiologen und Kognitionsbiologinnen durch komplexe Sozialstrukturen (Social Brain Hypothesis); doch auch herausfordernde Umweltbedingungen könnten eine Rolle gespielt haben (Ecological Intelligence Hypothesis). Wären die Dinosaurier nicht vor 66 Millionen Jahren infolge eines Asteroiden-Einschlages ausgestorben, hätten sie vielleicht eine der menschlichen ähnliche Intelligenz entwickelt. Wobei sie, genaugenommen, nicht ganz ausgestorben sind – die Vögel sind ja ihre Nachfahren.

Biopsychismus: Leben und Bewusstsein gehören zusammen

Was ist Bewusstsein, und wer oder was hat es? Dies sind zwei verschiedene Fragen, und über keine der beiden herrscht Einigkeit in der Philosophie, wie Anne Sophie Meincke, Elise-Richter-Stipendiatin am Institut für Philosophie der Universität Wien, ausführte. Worum es hier geht (zumindest so viel ist klar), ist nicht, ob etwas aktuell bei Bewusstsein ist, sondern vielmehr, ob etwas die Fähigkeit zu bewussten Zuständen besitzt. Im Schlaf oder unter Vollnarkose sind wir nicht bei Bewusstsein, bleiben jedoch bewusstseinsfähige Wesen. Außerdem ist es für Bewusstsein nicht erforderlich, auf die eigene Bewusstseinsfähigkeit reflektieren zu können ("Selbstbewusstsein"); es reicht, wenn es sich, wie der amerikanische Philosoph Thomas Nagel formuliert hat, irgendwie anfühlt zu sein, was man ist: ein Mensch – oder vielleicht eine Fledermaus. Bewusstsein ist die Fähigkeit zu subjektiver Erfahrung.

Fledermaus
Auch für eine Fledermaus fühlt es sich wie etwas an zu sein, obgleich wir aufgrund der irreduziblen Subjektivität des Bewusstseins nicht wissen können, wie es sich anfühlt.
Wikipedia

Aufgrund seines subjektiven Charakters ist Bewusstsein nicht auf objektiv untersuchbare körperliche Zustände reduzierbar, obschon es von diesen – nach allgemeiner wissenschaftlicher Ansicht – produziert und erhalten wird. Nimmt man mit dem australischen Philosophen David Chalmers an, dass die fraglichen körperlichen Prozesse auch genauso gut ablaufen könnten, ohne Bewusstsein zu produzieren, stellt sich so die Frage, warum diese körperlichen Prozesse überhaupt Bewusstsein hervorbringen. Chalmers nennt dies das "harte Problem" des Bewusstseins. Doch ist Chalmers Annahme eigentlich plausibel?

Nein, sagt Meincke. Im Gegenteil. Zumindest in allem, was lebt, ist die Produktion von Bewusstsein gerade die Funktion der fraglichen körperlichen Prozesse. Ohne subjektive Erfahrung gibt es keine Bedürfnisse und keinen Antrieb, diese Bedürfnisse durch entsprechende Interaktionen mit der Umwelt zu befriedigen. Die grundlegende Interaktion für jeden Organismus ist der Stoffwechsel, der Austausch von Energie und Materie mit der Umwelt. Dem deutschen Philosophen Hans Jonas zufolge ist in der Tat der Stoffwechsel die Keimzelle bewusster Erfahrung, da hier zum ersten Mal eine Differenz von Selbst und Welt aufbricht. Leben ist, so Meincke, ein andauernder Kampf um die Hervorbringung und Erhaltung einer subjektiven Perspektive auf die Welt. Ein "hartes Problem" des Bewusstseins stellt sich nicht.

Kultureller Stoffwechsel: die Stadt als Organismus

Maximilian Hartmuth, der am Institut für Kunstgeschichte der Universität Wien forscht und lehrt, ging in seinem mit der Frage "Was ist urbanes Leben?" betitelten Beitrag der Sinnhaftigkeit biologischer Analogien und Metaphern in den Geistes- und Sozialwissenschaften nach. Gleicht eine Stadt einem organischen Körper mit Straßen als Arterien, durch die der Verkehr fließt – im Idealfall ohne Stau beziehungsweise ohne Arterienverstopfung? Und lässt sich der Unterschied zwischen solch basaler Infrastruktur und nichtkommerziellen städtischen Strukturen, man denke zum Beispiel an Bildungsinstitutionen, analog dem Unterschied zwischen basalen physiologischen Prozessen, wie eben dem Blutkreislauf, aber auch – noch basaler – dem Stoffwechsel, und höheren kognitiven Funktionen, wie etwa dem Gehirn, verstehen?

Sarajevo, Stadt, Luftaufnahme
Sarajevo, hier zu sehen das osmanische Zentrum, hat eine bewegte Geschichte.
Maximilian Hartmuth

Am Beispiel der dynamischen Entwicklung der Stadt Sarajevo zwischen 1450 und 1600 diskutierte Hartmuth hypothetische Vorgänge eines sich selbst erneuernden Organismus. Der Architekturhistoriker fragte, ob das Konzept des "urbanen Stoffwechsels", das in stadtökologischen Untersuchungen gerne im Zusammenhang mit Analysen von Energie- und Materialflüssen bemüht wird, auch eine Entsprechung in stadtkulturellen Vorgängen haben könnte, wie sie etwa im Umlauf von Gedanken und der Zurschaustellung eines Lebensstils dienenden Konsumgütern darstellbar wären. Zuletzt untersuchte Hartmuth in seinem Beitrag, ob sich "Urbanität" im Zusammenspiel von Infrastrukturen und Institutionen ergibt, die diese und andere Mobilitäten ermöglichen.

Unter Authentizitätszwang: Lebenserfahrung in Spoken Word Poetry

Julia Lajta-Novak, Assistenz-Professorin am Institut für Anglistik und Amerikanistik der Universität Wien, lenkte den Blick auf die Verarbeitung des individuell gelebten Lebens in Spoken Word Poetry. Ein besonderer Reiz scheint hier das "leibhaftige" Erscheinen des Autors oder der Autorin zu sein, was erklären mag, warum diese Kunstform stark mit Vorstellungen von Authentizität verbunden ist und warum die Autobiografie zu seiner dominierenden Form geworden ist. Lajta-Novak erörterte, wie die zeitgenössische mündliche Poesie-Performance als eine Form des Aktivismus im Kontext politischer Projekte wie dem Feminismus der vierten Welle und Bewegungen für Rassengerechtigkeit funktionieren kann.

In ihrem Gedicht "Embarrassed" ("Beschämt") beschreibt Holly McNish, wie sie ihre Tochter in öffentlichen Toilettenanlagen stillt, um spitzzüngigen Kommentaren der Mitmenschen zu entgehen.
Hollie McNish

Am Beispiel von Hollie McNishs Gedicht "Embarrassed" demonstrierte Lajta-Novak, wie zeitgenössische Spoken-Word-Dichter und -Dichterinnen ihre gelebte Erfahrung nutzen, um größere politische Themen anzusprechen. Und sie erörterte die Art und Weise, in der "Embarrassed" autobiografisch gerahmt ist und sich auf eine "Ästhetik der Aufrichtigkeit" stützt, die für Spoken Word Poetry typisch ist. Am Ende des Beitrages sprach Lajta-Novak neben den Möglichkeiten einer "authentischen", autobiografischen Selbstdarstellung auch die Probleme und Einschränkungen an, die sich aus der Bedeutung von Selbstdarstellungen für die Praxis des gesprochenen Wortes ergeben.

Überlebenskünstler: Mikrobielles Leben unter Extrembedingungen

Dagmar Woebken, Assoziierte Professorin am Zentrum für Mikrobiologie und Umweltsystemwissenschaft an der Universität Wien, entführte uns zurück in die naturwissenschaftliche Betrachtung des Lebens. In ihrem Vortrag ging es um die Fähigkeit von Mikroorganismen, in extrem harschen Habitaten zu überleben. Woebken untersucht diese Fähigkeit am Beispiel von heißen, ariden (also niederschlagsarmen, trockenen) Wüsten. Diese Wüsten stellen eine große Herausforderung für mikrobielles Leben dar, da sich der geringe Niederschlag auf nur wenige Tage im Jahr verteilt und Bodenbakterien dadurch lange Dürren in Kombination mit hohen Temperaturen und starker Lichteinstrahlung überstehen müssen. Dies tun sie, indem sie ihre Stoffwechselaktivität herunterfahren und einen Ruhezustand einnehmen, die sogenannte Dormanz. Wenn sich die Bedingungen zum Besseren verändern, sind diese Bakterien in der Lage, ihren Stoffwechsel wieder hochzufahren und wichtige Funktionen im Ökosystem auszuüben.

Wüste, Forscherin
In der israelischen Wüste Negev werden Bodenproben entnommen, um den Überlebenstricks der Mikroben auf die Schliche zu kommen.
Dagmar Woebken

Momentan erforscht Woebken mit ihrer Gruppe, wie schnell Bodenbakterien in Wüsten auf die Verfügbarkeit von Wasser in Form von Regen reagieren und ob sie diese kurzen Phasen (meistens nur ein bis zwei Tage) nicht nur zur Stoffwechselaktivität, sondern auch zum Wachstum nutzen können. Das Wissen, wie Bodenbakterien mit geringsten Mengen von Wasser überleben können, kann besonders im Hinblick der sich ausbreitenden Dürren von Interesse sein.

Am Anfang war (heißes) Wasser: die Ursprünge des Lebens auf der Erde

Der abschließende Vortrag von Miriam Unterlass, Professorin für Festkörperchemie and der Universität Konstanz, befasste sich mit Forschungsbemühungen ihrer Gruppe zur Entschlüsselung von Aspekten der Entstehung organischer Moleküle auf der frühen Erde. Der Planet Erde ist etwa 4,6 Milliarden Jahre alt, und es wird angenommen, dass der Ursprung des Lebens im Hadaikum begann, dem ersten Äon vor 4,6 bis 4 Milliarden Jahren. Man vermutet weiter, dass Wasser bereits in der Zeit des Hadaikums auf der Erde existierte – ein entscheidendes Molekül, wenn man bedenkt, dass alle heutigen Lebensformen auf dem Planeten auf Wasser basierende Organismen sind. Außerdem bestehen alle heute lebenden Organismen neben Wasser vornehmlich aus organischen Molekülen, das heißt aus Molekülen, die auf dem Element Kohlenstoff basieren.

Magma, Vulkan, Blitze
Am Anfang war die Erde ein sehr unwirtlicher Ort; dennoch liegt wohl im Hadaikum die Geburtsstunde des Lebens.
Tim Bertelink (https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hadean.png), "Hadean", https://creativecommons.org/licenses/by-sa/4.0/legalcode

Eine grundlegende Frage bei der Entschlüsselung des Ursprungs des Lebens lautet daher: Wie haben sich organische Moleküle auf der Urerde gebildet? Eine Hypothese besagt, dass das Vorhandensein von Wasser, insbesondere in Form von heißem, flüssigem Wasser, während des Hadaikums eine entscheidende Rolle spielte. Unterlass gab Einblicke in ihr Forschungsgebiet der abiotisch-biotischen Schnittstelle bei der Bildung von organischer Materie aus den auf der frühen Erde vorhandenen Bestandteilen. Sie hofft, dass diese Forschung zum Verständnis der chemischen Aspekte, die der Entstehung des Lebens auf der Erde vorausgingen, beitragen und die chemische Umwandlung von einfachen und reichlich vorhandenen mineralischen und kleinen Molekülbausteinen in organische Moleküle aufdecken wird. Dies wiederum könne ein Ausgangspunkt für chemische Umwandlungen sein, die reichlich vorhandene Ressourcen für eine nachhaltige chemische Produktion nutzen.

Leben: Einheit in der Vielfalt

Leben, so ist in der Zusammenschau der verschiedenen Perspektiven deutlich geworden, ein vielschichtiges und gleichwohl in sich zusammenhängendes Phänomen. Es ist unter abenteuerlichen Umständen durch noch nicht aufgeklärte chemische Prozesse auf der Erde entstanden, es hat sich hier trotz vielfach widriger Umstände gehalten, entwickelt und ausdifferenziert bis hin zur Entstehung intelligenter Lebensformen mit einem immer ausgeprägteren bewussten Erleben ihrer selbst und der Welt, einschließlich des menschlichen Lebens, das in Architektur, Kultur, Dichtung und Philosophie sich eine Behausung gibt und symbolischen Ausdruck verleiht.

Wenn es verschiedene Bedeutungen des Begriffs "Leben" gibt, dann sind sie jedenfalls miteinander verwoben, und es wäre falsch, die eine oder andere Bedeutung reduktionistisch als die einzig oder eigentlich gültige ausweisen zu wollen. Interdisziplinärer Dialog kann uns helfen, das Leben in seinem ganzen Reichtum zu ermessen, und uns ermutigen, das Stückwerk unseres Wissens zu einem Gesamtbild zusammenzufügen, weil gerade so dasjenige, das wir noch nicht verstehen, uns klarer vor Augen tritt. Wissen, was man (noch) nicht weiß, ist der Anfang der Vermehrung des Wissens, wusste schon Sokrates. Mehr noch: Menschliches Leben gelingt auch im ethischen Sinne besser, wenn es sich vernünftig auf sich selbst besinnt, wenn es sich selbst im Kontext des Lebens überhaupt erforscht. Sokrates, der unermüdliche Philosoph, wäre daher sicherlich zufrieden gewesen mit unserem Science Day. (Anne Sophie Meincke, Dagmar Woebken, 25.10.2023)