Totentanz Pablo Sigg
Eine Kröte versucht sich zu befreien – einer der Nebenplots in Pablo Siggs existenzialistischer Kolonialsaga "Totentanz".
© Viennale

Elisabeth Förster-Nietzsche hat Nueva Germania vor langer Zeit verlassen, aber die Überreste der von ihr und ihrem Mann in Südamerika gegründeten Kolonie gibt es noch. 1886 ging Ehemann Bernhard Förster, im Deutschen Kaiserreich ein umtriebiger Nationalist und Antisemit, mit einer kleinen Gefolgschaft nach Paraguay. Förster-Nietzsche kam wenig später nach. Im Dschungel eines Landes, das nach einem Krieg gegen seine Nachbarn nahezu entvölkert war, wollten die Kolonisten damals ein "reinrassiges" Utopia gründen.

Das "Lama"

Lamaland, nach der jüngeren Schwester von Friedrich Nietzsche, die der Philosoph "das Lama" nannte, hat Pablo Sigg seine Filmtrilogie über diese Kolonie benannt. Totentanz ist der zweite Teil. Die Beschäftigung des mexikanisch-schweizerischen Filmemachers mit Nueva Germania könnte man als obsessiv bezeichnen. Seit Sigg 2009 die Arbeit an dem Dokumentarfilm Der Wille zur Macht begann, hat er über mehr als ein Jahrzehnt immer wieder in Nueva Germania gedreht – stets mit den Brüdern Friedrich und Max Josef Schweikhart vor der Kamera.

Die zwei letzten direkten Nachfahren der Kolonisten, zwei rüstige, von tiefen Falten zerfurchte Männer im hohen Alter, spielen in der Lamaland-Trilogie fiktionale Alter Egos. Wie Texttafeln zu Beginn von Totentanz zeigen, haben sich die Schweikharts im ersten Teil in geradezu alttestamentarischer Weise gegenseitig ermordet und treten nun als Untote auf, die in der sonst menschenleeren Kolonie ihrem Alltagstrott nachgehen.

Keine Kolonialsatire

Auch wenn die kruden Irrwege des deutschen Kolonialismus den Subtext dieses Films bilden, handelt es sich keineswegs um eine Kolonialsatire, wie sie mit vergleichbarem Sujet etwa Christian Kracht in seinem Roman Imperium gezeichnet hat. Zwei andere Referenzen helfen eher, Siggs idiosynkratische Vision zu skizzieren. In der Form lässt sich eine Nähe zu Béla Tarrs Das Turiner Pferd (ebenfalls mit Nietzsche-Bezug) feststellen: Auch Totentanz besteht aus kontemplativen, präzise komponierten Bildern von alltäglichen und sich wiederholenden Abläufen. Ein Bruder wäscht dem anderen die Füße, ein Topf köchelt auf dem Herd, die Klänge eines Transistorradios bringen eine ferne Außenwelt (Schuberts Liebesglück des Fischers, lateinamerikanische Folklore) in die isolierte Kolonie.

Totentanz Pablo Sigg
"Totentanz" besteht aus kontemplativen, präzise komponierten Bildern von alltäglichen und sich wiederholenden Abläufen.
© Viennale

Die langen Einstellungen erfordern Konzentration, aber die Ästhetik der von Sigg auf 35-mm-Schwarzweißfilm gedrehten Bilder und das ausgefeilte Sounddesign (Sato Shinji) können einen Sog entfalten.

Das Szenario des Films wiederum erinnert an den Kosmos von Samuel Beckett, dem Sigg sich filmisch schon gewidmet hat (I, Of Whom I Know Nothing, 2014). Zwei wortlose Alte, deren mühsame Existenz nach dem Tode einfach weitergeht, und eine ans Stuhlbein gefesselte Kröte, die sich immer wieder vergeblich zu befreien versucht – nicht viele Filmbilder kommen so nah an die existenzielle Absurdität von Becketts Endspiel heran. (Jan-Philipp Kohlmann, 30.10.2023)