Sofia Exarchou
Was man als Animateurin nicht alles können muss ... eine Performance für Touristen aus Sofia Exarchous "Animal".
© Viennale

Tourismus ist geordneter Exzess. Von diesem Paradoxon erzählen zwei Filme der diesjährigen Viennale auf ganz unterschiedliche Art: der Spielfilm Animal und die Dokumentation Vista Mare. Das Festival trifft diese programmatische Unterscheidung nicht mehr, für den jeweiligen Zugang der Filme ist sie aber essenziell.

Beide sind österreichische Koproduktionen. Im Fokus stehen jedoch nicht die heimischen Exzesse im Wintertourismus, sondern jene an den Lieblingsdestinationen im Sommerurlaub. Dort, wo sich die Österreicher und Österreicherinnen hinwünschen und wie im S.T.S.-Song "irgendwann für imma durt" bleiben wollen, hackeln andere für die Urlauber.

Das gefrorene Lächeln

Während sich in Vista Mare das Südtiroler Dokumentarduo Julia Gutweniger und Florian Kofler an der Adria zwischen Rimini und Jesolo auf Bilderfang macht, begibt sich Animal-Regisseurin Sofia Exarchou ins griechische All-inclusive-Hotel Mirage. Dort ist Kalia die Königin und Veteranin einer Truppe von Animateuren, die die Gäste bei Laune halten. Wie eine Zirkusfamilie stehen sie auf der Bühne, tanzen mit den Touristen und leben, lieben, trinken nach getaner Vergnügungsarbeit gemeinsam.

Es ist ein harter Job, das Lächeln im eigenen Gesicht zu halten. Das lernt auch Eva, die Neue, schnell, während Kalia irgendwann nicht mehr die Kraft hat, die Partymaske nach Feierabend abzusetzen. Animal bleibt nahe an Kalia, lässt sein Publikum aber lange im Unklaren, wo es mit ihr hingeht – bis sie dann ausbricht.

In Vista Mare ist die dokumentarische Dramaturgie keine individuelle. Sie folgt mit vielen Totalen dem fast schon natürlichen großen Bogen, den die Urlaubssaison vorgibt. Als nach den minutiösen Vorbereitungen vor Ort die ersten Autos über den Brenner Richtung Süden rollen, füllt sich die Strandkulisse mit Leben – bis zum großen Aufräumen am Saisonende.

Vista Mare
In "Vista Mare" macht sich das Südtiroler Dokumentarduo Julia Gutweniger und Florian Kofler an der Adria zwischen Rimini und Jesolo auf Bilderfang.
© Viennale

Witzige und absurde Momente

Die Arbeiter und Arbeiterinnen, die den Strandblick für die Urlauber tagtäglich perfektionieren, stehen auch hier im Fokus. Gutweniger und Kofler folgen mit ihrer Kamera den Bewegungen der Arbeitsschritte. Dabei finden sie in den Wiederholungen und Symmetrien witzige und absurde Momente: Bagger präparieren den Sand, Angestellte setzen die ferngesteuerten Sonnenschirme, und in den Hotels trainieren die Animateure ihr Lächeln – so wie die Hauptfigur in Animal. Im Zuschauerkopf kombiniert sich das alles zu Themen wie Klasse, Arbeit, Ausbeutung und Exotismus. Doch beide Filme sind viel mehr an den konkreten Tourismusarbeiterinnen selbst interessiert.

ANIMAL teaser
Teaser of the upcoming film by Sofia Exarchou
Homemade Films

Als Kalia in der zweiten Hälfte ihrer Geschichte endlich aus dem Fegefeuer des Turbotourismus ausbricht, öffnet sich auch für Exarchous Film ein neues Kapitel. Kalia wechselt die Seiten und wird selbst zur Fremden. Man wünscht ihr und dem Film eine frühere Auferstehung.

Denn unter den Touristen auf der Insel trifft sie Jonas aus Linz, eine gute Seele verkörpert von Neo-Schauspieler Voodoo Jürgens. 30 Minuten vor Ende hat er einen allzu kurzen, aber freizügigen Auftritt – eine wunderbar-intime Szene mit der phänomenalen Hauptdarstellerin Dimitra Vlagopoulou. Sie war schon in Exarchous Debütfilm Park mit dabei und gewann für Animal nun den Schauspiel-Leoparden in Locarno.

Zerstörerische Energie

Die griechische Koproduktion mit der Salzburger Nabis Film rund um Filmemacher Lukas Valenta Rinner und Verleiher Pierre-Emmanuel Finzi ist ein intensiver Spielfilm. Exarchou versteht es, die zerstörerische Energie ihrer Filmwelt positiv auf die Leinwand zu übertragen. Und Kalias großartige Karaoke-Performance des 70er-Songs Yes Sir, I Can Boogie hat das Zeug zum traurig-schönsten All-inclusive-Musikmoment seit Aftersun oder Rimini.

Musikalisch ist in beiden Filmen kein Platz für S.T.S.-Aussteigerhymnen. Für Kalia und ihre Animateurskollegen an der Adria heißt der Soundtrack eher "Irgendwann bleib I dann nimma durt". (Marian Wilhelm, 25.10.2023)