Die
Die "Sex and the City"-Protagonistinnen Charlotte York, Carrie Bradshaw, Miranda Hobbes und Samantha Jones machten Ende der Neunzigerjahre so manchen Schuhdesigner bekannt.
imago images/Mary Evans

Schuhe. Jeder hat eine Meinung, Valerie Steele hat eine Ahnung. Sie ist die einflussreichste Modehistorikerin der USA, seit 20 Jahren ist sie Direktorin des Museums am Fashion Institute of Technology in New York und Herrin über 5000 Paar Schuhe im Archiv des Hauses. Ein opulenter Bildband stellt nun Höhepunkte aus der Sammlung vor. Zum Interview hat sich die 68-Jährige aus New York per Video zugeschaltet, im Büro trägt sie an diesem Tag silberne Schnürschuhe, Stöckelschuhe fände sie für ihr Alter langsam zu gefährlich. "Obwohl ich jedes Mal flache Schuhe getragen habe, wenn ich mal hingefallen bin", sagt sie.

STANDARD: Als Sie letztes Jahr eine umfassende Schuhausstellung kuratierten, sollen Besucherinnen ausgerufen haben: "Ich bin gestorben und im Schuhhimmel aufgewacht!"

Valerie Steele: Menschen haben offenbar eine starke Beziehung zu Schuhen, die meiner Meinung nach enger ist als zu jedem anderen Kleidungsstück.

STANDARD: Warum ist das so?

Steele: Schuhe behalten ihre Form, stehen für sich. Andere Kleidungsstücke ziehen wir aus, streifen sie wie eine Schlangenhaut ab – und nur der Stoff bleibt übrig. Der Schuh ist eine kleine Skulptur, er verkörpert die jeweilige Person, die ihn trägt. Er gilt als Äquivalent seines Trägers, sein Mini-Ich.

STANDARD: Er ist der emotionalste Teil unserer Garderobe?

Steele: Auf jeden Fall für Frauen. Wenn sie sich einen Stöckelschuh anziehen, verändert sich ihre Haltung. Sie strecken den Po aus, der Busen rutscht nach oben, der Körper bekommt Kurven – ohne dass Frauen überhaupt einen Schritt gemacht haben. Ich bin der festen Überzeugung, hochhackige Schuhe symbolisieren für sie erotische Weiblichkeit.

Die Modehistorikerin Valerie Steele ist seit 2003 Direktorin des Modemuseums des Fashion Institute of Technology in New York.
Die Modehistorikerin Valerie Steele ist seit 2003 Direktorin des Modemuseums des Fashion Institute of Technology in New York.
Michael Canakis

STANDARD: Aber es gibt auch eine breite Front gegen sie, weil sie unbequem sind und wehtun. Frauen in verschiedenen Ländern protestieren gegen Stöckelschuhe am Arbeitsplatz.

Steele: Das ist ein Riesenunterschied, ob ein Arbeitgeber Sie zwingt, High Heels zu tragen, oder Sie diese freiwillig auf ein Date anziehen. In Japan haben sich weibliche Angestellte dagegen gewehrt, dass es vertraglich geregelt ist, dass sie zwölf Stunden in Stöckelschuhen arbeiten müssen. Das ist völlig verständlich.

STANDARD: Feministinnen geißeln die Schuhe als Fessel des Patriarchats.

Steele: Die Anti-High-Heel-Bewegung kam nach dem Zweiten Weltkrieg auf, als der Stiletto-Absatz erfunden wurde. Plötzlich trugen Frauen diese hohen, schmalen und wackeligen Absätze. Feministinnen wie Simone de Beauvoir lehnten sie ab, der Feminismus in den 70er-Jahren empfand sie als unwürdig. Ab den 80er-Jahren änderte sich jedoch die Einstellung. Frauen kämpften um positive Sexualität, die Pro-Choice-Debatte bestimmte die Medien, andere Schlachten wurden wichtiger. High Heels haben nur noch in bestimmten Kontexten ein schlechtes Image.

STANDARD: Woran denken Sie?

Steele: Als Melania Trump Flutopfer in New Orleans besuchte, trug sie hochhackige Schuhe. Das zeugt von einer gewissen Ahnungslosigkeit. Die Leute fragten sich: Sollen wir wirklich glauben, dass sie mit Stöckelschuhen durchs Hochwasser geht, um Menschen zu helfen?

STANDARD: Der ewige High-Heels-Streit ist jedenfalls nicht beigelegt: Stehen sie nun für Ermächtigung oder für Unterwerfung?

Steele: Die Bedeutung projiziert die Gesellschaft hinein – und ist situationsabhängig. Natürlich ist es entwürdigend, wenn ein Fotograf wie David Bailey sagt: Ich liebe High Heels, weil Frauen darin nicht weglaufen können. Auf der anderen Seite erzählte mir eine Domina, wie hohe Absätze in ihrem Job zum Statement ihrer Macht werden. Sie verwandelt sich damit in eine Art phallische Frau, vor der sich der Mann hinkniet, um ihr die Stiefel zuzubinden.

Louis Vuitton (Nicolas Ghesquière) "Archlight" Sneakers, Frühjahr 2018
Courtesy The Museum at The FashionInstitute of Technology

STANDARD: Gibt es ein Kleidungsstück, das vergleichbare erotische Fantasien auslöst?

Steele: Höchstens Unterwäsche, doch diese konnotieren wir eher mit dem Dreck des Tages, den wir loswerden wollen. Als ich über die Fetischkultur geforscht habe, stieß ich auf viele Fantasien, die mit Schuhen zu tun haben: der phallische Fuß, der in die jungfräulichen Schuhe hineinschlüpft, oder das Zehendekolleté – diese Linie über den Zehen, die den Fuß wie bei einem Brustausschnitt freilegt. Es gibt Männer, für die das Klicken von High Heels eine S&M-Fantasie auslöst: Ah, da kommt eine Frau, die mich bösen Jungen gleich verprügelt.

STANDARD: Kommen Sie in Ihrer Arbeit oft mit solchen Fetischisten in Kontakt?

Steele: Ich habe bereits dafür gesorgt, dass meine Nummer nicht mehr im Telefonbuch steht. Manche Männer hinterließen mir im Büro eine Nachricht, dass sie gern mein Assistent sein würden. Ich habe meine Sekretärin angewiesen, nicht zu antworten: Der will nur mein Sklave sein, ich habe kein Interesse.

STANDARD: In "Sex and the City" hat die Hauptfigur Carrie Bradshaw eine fast intime Beziehung zu ihren Schuhen. Wie hat die Serie die Sicht auf Schuhe verändert?

Steele: Sie hat vor allem deren Designer berühmt gemacht: Manolo Blahnik oder Christian Louboutin wurden einem Massenpublikum vorgestellt und zu sofort erkennbaren Prominenten in den Medien.

STANDARD: Dieses Jahr veröffentlichte die britische Schriftstellerin Jojo Moyes den Bestseller "Mein Leben in deinem", in dem eine Büroangestellte neues Selbstvertrauen fasst, nachdem sie gestohlene Designer-High-Heels angezogen hat. Wieso brauchen Leser solche Märchen?

Steele: Sie wollen glauben, dass sich mit einem neuen Schuh das Leben verändert. Das reiht sich in eine lange Liste von Mythen ein. Hermes mit den geflügelten Sandalen kann fliegen, denken Sie die Siebenmeilenstiefel aus dem Märchen oder den Cinderella-Effekt: Mit dem richtigen Schuh findest du deinen Traumprinzen. Es ist vergleichbar mit der Suche nach dem Zauberring, der einem Macht verleiht.

STANDARD: Was wenige wissen: In der westlichen Welt trugen zuerst Männer Stöckelschuhe.

Steele: Im 17. Jahrhundert reiste eine Gesandtschaft des Persischen Reichs an den Hof Ludwigs XIV. Diese stolzen Männer hatten hochhackige Stiefel an, deren Absätze sie in ihren Steigbügeln verhakten. Die französischen Aristokraten wollten diese Schuhe sofort auch haben, um sich mächtiger zu fühlen und mit ihnen prahlen zu können. Deshalb sehen wir zum Beispiel Ludwig XIV. auf Porträts in roten Schuhen mit hohen Absätzen.

STANDARD: Wieso haben Männer diese extravagante Mode später aufgegeben?

Steele: Warum haben sie bunte Seide, Spitze und Stickereien aufgegeben? Der Aufstieg der Demokratie und des Kapitalismus ist schuld daran. Mit ihm setzte zwischen 1780 und 1820 eine Neubewertung schmückender Elementen ein. Männer begannen, Stiefel mit flacheren Absätzen zu tragen. Selbst bei Frauen beobachten wir eine Entwicklung hin zu flachen Schuhen. Das wissen wir aus den Schriften des Romanciers Nicolas Restif de la Bretonne, der erstmals Schuhfetischismus beschrieben hat. Er lief Ende des 18. Jahrhunderts Damen hinterher, stahl ihre Stöckelschuhe, um in sie zu masturbieren – und beklagte sich bitterlich darüber, dass Frauen nun Sandalen tragen würden.

STANDARD: Bequeme Schuhe haben heute wieder Konjunktur. Birkenstock vermeldete wieder einen Umsatzrekord, zudem ist die Marke an der Börse.

Steele: Ich erinnere mich gut, als ich 1999 einen Birkenstock zum ersten Mal für eine Ausstellung auswählte. Eine brasilianische Journalistin kam nach ihrem Besuch entrüstet auf mich zu: "Keine Frau in Lateinamerika würde jemals diese hässlichen Dinger tragen." 20 Jahre später besitzen diese asexuellen, wenig femininen Schuhe einen Coolness-Faktor, wie übrigens Crocs auch, die längst nicht mehr nur Krankenschwestern tragen. Es verändert sich ständig, was wir als hässlich empfinden. Ich halte es mit Jean Paul Gaultier, der bereits in den 90er-Jahren gesagt hat: Warum nennt ihr das hässlich – und nicht einfach interessant?

Der opulente Bildband stellt Höhepunkte aus der 5000 Paar Schuhe-Sammlung vor.
Der opulente Bildband "Shoes A–Z. The Collection of The Museum at FIT" stellt Höhepunkte aus der 5000 Paar Schuhe-Sammlung vor.
Foto: Taschen-Verlag

STANDARD: Dieser Trend passt in eine Zeit, die Geschlechteridentitäten neu verhandelt.

Steele: Machen wir uns nichts vor, es ist für Frauen leichter, sich an Männerkleidung zu bedienen, als andersherum. Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft. Das bedeutet, wenn Frauen eine bestimmte Mode tragen, ist sie für Männer kontaminiert. Einer der seltenen, beinahe revolutionären Momente, in denen Männer bereit waren, sich femininer zu geben, erlebten wir in den 1970er-Jahren, als ein paar Jungs begannen, Ohrringe zu tragen. Das hatte es im Westen seit Jahrhunderten nicht mehr gegeben. Ich erinnere mich, wie geschockt manche darauf reagierten. Selbst ein aufgeklärter Künstler wie Larry Rivers, ein Hipster, Beatnik und Jazzmusiker, flippte aus, weil sein Sohn sich ein Loch hatte stechen lassen. Erst als Sportler mit einem unleugbar maskulinen Ruf anfingen, die Mode zu übernehmen, fühlten sich alle freier, ihren inneren Piraten rauszulassen.

STANDARD: Turnschuhe werden inzwischen von beiden Geschlechtern getragen, Sie behaupten jedoch, dass sie eindeutig männlich konnotiert seien.

Steele: Weil Sneaker fast ausschließlich von Männern gesammelt werden und sie anders darauf blicken. Sie versprechen sich davon ein maskulines athletisches Image – und oft eine lohnende Investition. Das ist der elementare Unterschied zwischen der Schuhsammlung von Frauen und der von Männern. Bei Frauen ist die Kollektion dazu gedacht, getragen zu werden, bei Männern spielt die potenzielle Gewinnmarge eine Rolle. Für einen Sneaker in Originalverpackung und im makellosen Zustand bekommen Sie mehr Geld. Der Wert des Schuhs kann damit um 1000 US-Dollar steigen.

STANDARD: Im April 2023 versteigerte Christie’s ein Paar Nike-Turnschuhe von Michael Jordan für 2,2 Millionen US-Dollar. Ist das gerechtfertigt?

Steele: Nein, das ist völlig willkürlich. Aber es gibt – wie in der Kunst – eine große Nachfrage und nur ein winziges Angebot. Ich finde es interessant, wie damit die 60.000 Pfund übertroffen wurden, die ein Paar Armadillo-Damenboots von Alexander McQueens erzielt hatte. Die Sammler von Sneakern verfügen ganz offensichtlich über mehr Ressourcen als jene von Damenschuhen.

STANDARD: Dafür haben sie im Schnitt weniger Paar Schuhe im Schrank: Amerikanische Frauen besitzen etwa 30 Paar, Männer dagegen nur zwölf. Warum dieses Ungleichgewicht?

Steele: Weil für Frauen der Schuheinkauf höchstes Vergnügen bedeutet, er ist das angewandte Lustprinzip. Das Anprobieren eines Badeanzugs ist die demütigendste Form des Shoppings, aber für ein schönes Paar Schuhe ist man weder zu alt noch zu dick. Manchmal erzählen mir Frauen, dass sie die Schuhe sogar kaufen, obwohl sie nicht in ihnen gehen können – einfach nur, um sie auf ihrem Schreibtisch zu bewundern.

STANDARD: Welche Parameter haben Sie, wenn Sie ein neues Paar einkaufen?

Steele: Der Charme des Schuhkaufs besteht doch darin, dass man nicht weiß, wonach man sucht. Der reine Zufall ist das größte Glück, wenn man etwas im Schaufenster entdeckt, was einen anspricht.

STANDARD: Sie haben doch Modelle, die Sie besonders begehrenswert finden?

Steele: Ich wollte unbedingt die Entwürfe von Noritaka Takehana anziehen, diese schwarzen Schuhe mit einem gigantischen Blockabsatz unterm Fußballen, die Lady Gaga getragen hat. Ich habe mir ein Paar anfertigen lassen, das sieben Zoll hoch war, also knapp 18 Zentimeter. Ein Jahr lang habe ich mit einem Trainer meine Waden gekräftigt und konnte die Schuhe trotzdem nie länger als 20 Minuten anziehen. Meine Knöchel taten so weh. Es war faszinierend, das Gehen auf dem Fußballen zu üben, ohne dass die Ferse einen Halt hat. Als würde man versuchen, auf Zehenspitzen zu laufen und sich vom Boden abzustoßen. Ich bin beeindruckt, dass Gaga mit den Schuhen in die Hocke gehen und ihre Waden strecken konnte. Ich hatte einfach nur Angst, in ihnen umzufallen. (RONDO, Ulf Lippitz, 4.11.2023)

"Shoes A–Z. The Collection of The Museum at FIT", Robert Nippoldt, Daphne Guinness, Colleen Hill, Valerie Steele, Taschen-Verlag, Famous First Edition: Nummerierte Erstauflage von 10.000 Exemplaren, Hardcover, 532 Seiten, € 125
Foto: Taschen-Verlag