Uniformierte tragen den Sarg eines Hisbollah-Kämpfers.
Im Südlibanon wird ein Hisbollah-Kämpfer begraben, der bei einem israelischen Gegenangriff getötet wurde.
REUTERS/AMR ALFIKY

Kein Tag vergeht ohne Zwischenfall an der Nordgrenze Israels zum Libanon: Es ist eine reale Gefahr, dass die libanesische Hisbollah, deren Raketenarsenal auf 150.000 Stück mit Reichweiten von wenigen bis zu 300 Kilometern geschätzt wird, im Falle einer israelischen Gaza-Offensive eine neue Front eröffnet. Derzeit sehen Experten Provokationen und Reaktionen noch in einem Bereich, der nicht auf die völlige Eskalation in der gesamten Region abzielt. Das kann sich aber schnell ändern – und auch ungeplant aus dem Ruder laufen.

Nicht nur die libanesische Hisbollah spielt dabei eine Rolle. Der Iran hat auch andere starke Stellvertretermilizen, vor allem im Irak, der nach der US-geführten Invasion 2003 und dem Sturz Saddam Husseins zu einer iranischen Spielwiese antiwestlicher Agitation geworden ist. Am Freitag zogen die USA nach Angriffen auf von ihnen genutzte Militärbasen im Westen und im Norden des Irak Teile ihres Botschaftspersonals und dessen Familien von Bagdad nach Jordanien ab.

Attacken gegen US-Truppen gab es in den vergangenen Tagen aber auch in Nordostsyrien. Und im Jemen ließen die Huthi-Rebellen ihren Drohungen Taten folgen: Vom Zerstörer USS Carney im Roten Meer wurden bereits am Donnerstag drei Raketen, die die Huthis Richtung Israel abschossen, neutralisiert. Pentagon-Sprecher Patrick Ryder bezeichnete die Vorfälle als "im Maßstab begrenzt", aber "besorgniserregend und gefährlich".

Auch in Teheran unvorhergesehen?

Zur Frage, ob Teheran eine direkte Konfrontation mit Israel riskieren oder zumindest seine Stellvertreter in den offenen Konflikt schicken würde, gibt es unterschiedliche Ansichten. Es ist gar nicht unwahrscheinlich, dass auch das iranische Regime die Entscheidung noch nicht gefällt hat. Wenn man davon ausgeht, dass die Hamas bei ihrem Überfall auf Israel am 7. Oktober viel weiter kam und von den israelischen Sicherheitskräften viel später gestoppt wurde, als sie es selbst erwartet hatte, dann wäre die derzeitige Situation auch bei ihrem Sponsor in Teheran unvorhergesehen gewesen.

Beinahe alle Stellvertretermilizen des Iran in der Region sind der Schia zuzuordnen, die sunnitische Muslimbrüderorganisation Hamas fällt da aus dem Rahmen. Um einen Ring des "Widerstands" – so nennt der Iran seine Ideologie – um Israel im Süden zu schließen, ist sie für den Iran jedoch wichtig. Deshalb stellen sich für Teheran zwei Fragen: Kann das Regime akzeptieren, dass Israel wie angekündigt die Hamas organisatorisch völlig vernichtet? Wenn nein, dann würde es im Fall einer Bodenoffensive die Hisbollah und andere losschlagen lassen. Aber daraus ergibt sich die zweite Frage: Kann der Iran andererseits riskieren, dass der wichtigste seiner Stellvertreter, die libanesische Hisbollah, wenn sie in den Konflikt eintritt, womöglich entscheidend geschlagen wird? Oder: Würde Teheran die Hisbollah opfern, um die Hamas zu retten?

Denn die USA haben sich nicht umsonst mit Kriegsschiffen vor der Mittelmeerküste – ein Teil davon ist über den Suezkanal ins Rote Meer weitergezogen – aufgepflanzt. Die Drohung gilt ganz klar der Hisbollah im Falle ihres Eingreifens. Von den anderen Gruppen kommen derzeit vor allem Nadelstiche, Erinnerungen an ihre Präsenz.

Vor allem im Irak sind die iranfreundlichen schiitischen Milizen sehr stark, ihr Block im Parlament stellt den Regierungschef. Das Büro von Premier Mohammed Shia al-Sudani kritisierte dennoch am Sonntag die Attacken auf US-Militäreinrichtungen: Die USA befänden sich "auf offizielle Einladung der Regierung" im Irak. Gleichzeitig verurteilte der Sprecher die "zionistische Aggression gegen die Bewohner des Gazastreifens".

"Islamischer Widerstand im Irak"

Die irakischen Gruppierungen, die sich zu Attacken bekennen, wechseln häufig die Namen: Diesmal meldete sich unter anderem der "Islamische Widerstand im Irak". Dahinter stecken jedoch immer die altbekannten, vom iranischen General Ghassem Soleimani organisierten Milizen, die der religiösen Führung in Teheran ihre Loyalität geschworen haben. Soleimani wurde mit seinem irakischen Stellvertreter Abu Mahdi al-Muhandis im Jänner 2020 auf dem Flughafen Bagdad von den USA aus der Luft getötet. Die USA und der Iran schrammten damals knapp an einem Krieg vorbei.

In Syrien ist die libanesische Hisbollah die wichtigste iranische Stellvertretergruppe: Der Krieg an der Seite des Assad-Regimes hat ihr einerseits eine enorme Aufrüstung und kriegerische Erfahrung gebracht, andererseits waren die Opfer – viele tote junge Männer – beträchtlich. Nach Syrien hat der Iran teilweise auch wild zusammengewürfelte, etwa aus Afghanen bestehende schiitische Milizen geschickt, aber sie sind höchstens Hilfstruppen.

Eine ganz eigene Geschichte haben die äußerst radikalen Ansar Allah im Jemen, bekannt unter dem Namen Huthis. Sie sind historisch andere Schiiten als die iranischen, irakischen und libanesischen. Seit 2014 kontrollieren sie die Hauptstadt Sanaa. Der Jemen-Konflikt hat lokale Gründe, wurde jedoch vom Iran und Saudi-Arabien in das Modell eines regionalen Stellvertreterkonflikts eingepasst. Der Iran unterstützt die Huthis militärisch und ideologisch, Saudi-Arabien beschuldigt Teheran, sie als eine neue "Hisbollah auf der Arabischen Halbinsel" installieren zu wollen. Genau in diesem Sinne agieren sie jetzt. (Gudrun Harrer, 23.10.2023)