Der Wiener Votivpark erstrahlt am Dienstagvormittag in Neongelb und -orange. Aus der versammelten Menschenmenge, die knallige Warnwesten trägt, ragen Schilder heraus, die den Grund für ihr Kommen illustrieren: "Raus aus der Massenkindhaltung", "Kinder brauchen Knete – wir auch", "Kindergarten: Come in and burn out".

Streikende Kinderpädagoginnen und Kinderpädagogen vor eine Bühne im Wiener Votivpark
Vor der Bühne im Votivpark haben sind rund 10.000 Streikende versammelt.
© Christian Fischer

Das Personal der Wiener Kindergärten, Horte und schulischen Freizeitbetreuung streikt an diesem Tag. Nach Angaben der Gewerkschaft Younion sind mehr als 10.000 Menschen nicht zum Dienst, sondern in den Park gekommen. Rund 100.000 Kinder mussten zu Hause bleiben. Younion und die Gewerkschaft GPA fordern unter anderem kleinere Gruppen mit mehr Personal, eine bessere Bezahlung und bundesweit einheitliche Rahmenbedingungen.

Video: Kinderbetreuer protestieren: "Unser Beruf wird immer noch belächelt."
DER STANDARD

Bildungsarbeit für die Politik

Auf der Bühne verweist Mario Ferrari, Landesgeschäftsführer der GPA Wien, auf den Schuldigen in der Misere: "Es ist unerträglich geworden, dass die Versprechen der Politik nicht eingelöst werden. Ich sehe keinen Plan, ich sehe keine Finanzierung. Es ist unerträglich, dass ihr trotz Arbeit armutsgefährdet seid." Kanzler Karl Nehammer (ÖVP) hatte zwar versprochen, den Ländern bis 2030 rund 4,5 Milliarden Euro für Kinderbetreuung zur Verfügung zu stellen – doch den Streikenden reicht das nicht. "Damit kommen wir nicht weit", sagt eine Rednerin, "wir müssen auch heute Bildungsarbeit leisten: Wir helfen der Politik beim Nachdenken." Trillerpfeifen und eine Trommlergruppe machen Lärm, um die Aussage zu unterstreichen.

Streikende Kinderpädagoginnen mit Plakaten
Die Kinderpädagoginnen und Kinderpädagogen machen mit Plakaten auf die Missstände aufmerksam.
© Christian Fischer

Eine Kinderbetreuerin, die schon seit mehr als 40 Jahren im Dienst ist, erklärt, warum sie streikt: "Es kommen immer mehr Kinder in den Kindergarten – und immer mehr, die zusätzliche Förderung, zum Beispiel bei der Sprache, brauchen. Der Anspruch an uns ist in den vergangenen Jahrzehnten immer weiter gestiegen, heute muss ich Pädagogin, Psychologin und Lehrerin gleichzeitig sein." Die Situation sei heute so schlimm wie noch nie während ihres Berufslebens.

Kaum Berufserfahrung hat hingegen eine 17 Jahre alte Auszubildende. "Als ich mich für den Beruf entschieden habe, waren mir die Probleme bewusst. Auf meiner Pro-kontra-Liste haben allerdings die guten Aspekte überwogen, ich mache den Job ja nicht für das Geld, sondern aus Leidenschaft", erzählt sie. Die junge Erzieherin berichtet aber auch davon, sich in Gruppen mit vielen – eigentlich zu vielen – Kindern überfordert zu fühlen. "Ehrlich gesagt bin ich mittlerweile nicht mehr ganz überzeugt, ob ich in diesen Beruf will."

Ein Teufelskreis

Marcus Eibensteiner, Sprecher von Younion, sieht ein Muster in solchen Berichten: "Wir haben zu wenig Personal. Das führt zu Stress, und immer mehr Menschen steigen dann aus oder entscheiden sich gegen den Beruf." Diesen Teufelskreis habe die Politik bislang nicht durchbrechen können. Der Grund: "Niemand fühlt sich zuständig für unsere Anliegen. Der Bund verweist auf die Länder, die Länder auf den Bund." Eibensteiner sorgt sich deshalb, dass die versprochenen 4,5 Milliarden Euro, die Teil einer Einigung zum Finanzausgleich sind, sich bei den Verhandlungen über Details als leere Versprechung herausstellen könnten. Dabei, so betont er, gehe es um die Zukunft der Kinder.

Das sehen auch zwei Mütter so, die sich dem Protest angeschlossen haben. "Das ist eine unterstützenswerte Sache. Wir merken ja selbst, dass es so nicht weitergehen kann", erzählt eine. "Vier bis fünf Wochen im Jahr läuft unser Kindergarten im Notbetrieb, weil Personal fehlt. Ich muss dann die Kinder zu den Großeltern geben oder meine Arbeit umdisponieren. Für mich ist das noch irgendwie möglich, aber für andere Familien ist es eine Katastrophe." Und auch die Kinder würden merken, dass etwas nicht stimme: "Meine Tochter erzählt oft, dass die Betreuer grantig sind. Ich führe das auf den Stress zurück, den sie haben."

Es geht nicht nur um Wien

Wie dieser Stress aussieht, dafür haben die Angestellten eine lange Liste an Beispielen. So könnten sie während der Arbeitszeit nicht einmal auf die Toilette gehen, von einer Kaffeepause ganz zu schweigen. "Ich renne nur Problemen hinterher, sobald ich irgendwo etwas aufgewischt habe, ist an einer anderen Stelle schon wieder einem Kind das Glas umgekippt", erzählt eine Betreuerin. Deshalb fordern die Gewerkschaften mehr Assistenzkräfte, damit in den Kindergärten auch wieder Bildungsarbeit stattfinden kann. Die Erzieherin fragt: "Ich bin mit 25 Kindern alleine. Würden Sie einen Geburtstag mit 25 Kindern ganz alleine stemmen wollen?" Die ständige Überforderung hinterlasse bei ihr Unzufriedenheit. "Ich habe ja den Anspruch, den Job gut zu machen. Aber unter diesen Rahmenbedingungen kann ich ihn gar nicht erfüllen", erklärt sie.

Die Kinderpädagoginnen ziehen um den Ring in Wien
Die Kritik der Streikenden richtet sich auch gegen Bildungsminister Martin Polaschek.
© Christian Fischer

Die Streikenden stehen schon einige Stunden im Votivpark, als sich die Versammlung gegen 11 Uhr in Bewegung setzt. Mit Trommlergruppe und einem Auto mit lauter Musik vorweg ziehen die Streikenden um den Ring, die Route führt am Rathaus entlang. "Auch wenn wir dort vorbeimarschieren, geht es uns nicht nur um Wien", erklärt Younion-Sprecher Eibensteiner. "In der Hauptstadt ist die Lage in den Kindergärten und Horten sogar vergleichsweise gut. In den Bundesländern ist es noch schlimmer." Dort lasse sich ein großer Streik mit Symbolkraft aber schlechter organisieren. Groß und vor allem spürbar soll er aber sein – um endlich bei der Politik etwas auszulösen. (Sebastian Scheffel, 24.10.2023)