Musik
Ein bisschen Karneval in Rio bei „Fire Fragile Flight” für 17 Instrumente von Lucia Dlugoszewski aus 1973.
Klangforum Wien/Cornelia Neuwirt

In einer Zeit, in der sich das Schreckliche allerorten verdichtet, braucht es Rückzugsräume, Orte der Rekreation und der seelischen Inspiration. Am Montagabend wurde der Mozart-Saal des Konzerthauses zu einem solchen Gegenpol zum – auch akustischen – Wahnsinn dieser Welt. Nicht nur Florian Silbereisen & Co. haben bei den Konzerten des Klangforum Wien Saalverbot. Trotzdem glitzert es hier in dieser facettenreichen Hör- und Wahrnehmungsschule.

Wie Sternschnuppen auf Red Bull zischen die hellen, gebündelten Erregungslinien in Lucia Dlugoszewskis Disparate Stairway Radical Other (1995) für Streichquartett. In hochenergetischem Zickzack, in rastlosen Glissandi wird auf E-Saiten himmelwärts gestrebt: eine Ode an aufsteigende Kräfte. Dlugoszweksi, 1925 als Kind einer Familie mit polnischen Wurzeln in Detroit geboren, lernte in den USA Arnold Schönberg kennen, nahm Kompositionsunterricht bei Edgard Varèse und John Cage, mit dem sie zuletzt in kreativer Dissonanz verbunden sein soll.

Regenwald und Cyborgs

Ein idealer Kontrapunkt zur fokussierten, gedrechselten Energie der Musik der US-Amerikanerin stellt Karen Powers dar. Elektronisch verstärkt, werden die Instrumentalisten unter der Leitung von Lin Liao hier (im Rahmen von neu komponierten Feldaufnahmen) zu Stimmungs- und Geräuschmachern, von deren großflächigen, naturnahen Klangräumen eine hypnotische Wirkung ausgeht. Im Zusammenspiel von Windgeräuschen, Vogelzwitschern und Tierlauten fühlt man sich in einen Regenwald versetzt. Man kann das Werk der irischen Komponistin als ein Plädoyer für Umweltakustika und wider das Zustöpseln der Ohren beschreiben.

Danach erneut ein radikaler Stimmungswandel: Ann Cleare beschreibt ihr Werk I am not a clockmaker als "Untersuchung klanglicher, zeitlicher und räumlicher Strukturen und ihrer ständig verschiebenden Prioritäten, während sie zu alternativen klanglichen Realitäten rekonstruiert werden". Konkreter: Auf Gewalt folgt Zersplitterung und Rekontextualisierung. Im Werk für Tasteninstrument und Live-Elektronik beweist sich der Akkordeonist Krassimir Sterev als kraftvoller Impulsgeber und Tonschnipseltennisspieler gegen sich selbst.

Töne wie taumelnde Aschepartikel.

Auf die technoide Cyborgsplatterfilmmusik Cleares folgt nach der Pause Anna Korsuns Popil. Töne wie taumelnde Aschepartikel. Ein Nukleus um das eingestrichene d erweitert sich zaghaft, das eingestrichene as etabliert sich kurz als Tonachse, über das zweigestrichene fis transzendiert die Sache immer mehr. Ein Sinkflug endet in pulsierender Wärme, in vokalem Summen. Eine Liebeserklärung an die Zartheit, an das Schwebende. Auch eine helle Klage, ein lichtes Memento mori?

Ein kunterbunter Ausbruch an Verrücktheiten, ein bisschen Karneval in Rio dann das abschließende Fire Fragile Flight für 17 Instrumente von Dlugosewski (1973). Ein idealer Schlusspunkt für den hochklassigen konzertanten Eskapismus in düsteren Zeiten. (Stefan Ender,24.10.2023)