Bärenfamilie auf der Straße
Zwei Bärenjunge und ihre Mutter beim Bettelstreifzug an der Transfogarascher Straße.
Stefanie Ruep

Fritz geht etwa 50 Meter vor mir und schreit jede halbe Minute "Go away bear". Ich hoffe, der angebliche Bär spricht so gut Englisch wie Iancu, der uns am Vorabend die wichtigsten Verhaltensregeln für das Wandern im Nationalpark Königstein in den Südkarpaten mitgegeben hat – einem Gebiet, in dem rund 25 Karpatenbären leben, sagt zumindest eine Infotafel. Mittlerweile dürften es jedoch mehr sein. Denn Rumäniens Bärenpopulation wächst. Die Erklärungen dafür gehen weit auseinander.

Iancu ist Alpinjournalist und privat zum Wandern hier. Nach einem schnellen Essen auf der Berghütte Cabana Curmătura steigt er am späten Nachmittag noch auf den Kleinen Königstein auf. Erst in der Dunkelheit kehrt er zurück. Eigentlich fahrlässig, wie er selbst sagt. Denn in der Abenddämmerung, nachts und den frühen Morgenstunden sei die Wahrscheinlichkeit, einem Bären zu begegnen, am höchsten, sagt er. Er habe unentwegt laut gerufen und im Wald geredet, um auf sich aufmerksam zu machen und keinen Bären zu überraschen. In der Regel würden die Tiere dann Reißaus nehmen und verschwinden. "Der Bär hat mehr Angst vor dir als wir vor ihm", sagt Iancu. Deshalb ist nun auch Fritz laut, während er durch den dichten Wald Richtung Gipfel des Turnul aufsteigt.

Prinzipiell suchen Bären das Weite, wenn ihnen ein Mensch im Wald zu nahe kommt, erklärt Barbara Promberger. Die steirische Biologin und Zoologin lebt seit mehr als zwanzig Jahren in Rumänien. Sie treibt zusammen mit ihrem Mann Christoph Promberger das Nationalparkprojekt Conservation Carpathia voran und ist seit Jahren in der Wildtierforschung tätig. Die größten Probleme würden Bären machen, die sich an den Menschen gewöhnt hätten.

Ein Bär frisst einen Knochen aus einem Sack, die ihm jemand aus dem Auto zugeworfen hat.
Stefanie Ruep

Die Auswüchse davon werden bei einer Fahrt auf der Transfogarascher Hochstraße augenscheinlich. Alle paar Meter wartet ein Braunbär am Straßenrand und steckt seine Schnauze zwischen zwei Betonleitwänden hindurch. Zwei junge Braunbären laufen über die Straße, die Mutter folgt ihnen langsam. Eines der Jungtiere setzt sich neben einem weißen Auto auf die Hintertatzen und wartet, dass aus dem geöffneten Fenster Essen fällt. Doch bei diesen Touristen haben sie kein Glück. Nur Handyfotos werden eifrig gemacht. Zwei Kilometer weiter reißt ein Bär einen schwarzen Plastiksack auf, aus dem mehrere Knochen purzeln.

Füttern ist fahrlässig

Die Bettelbären zu füttern sei fahrlässig, sagt Promberger. "Habituierte Bären, die die Scheu vorm Menschen verloren haben, sind die, die gefährlich werden können." Denn sie würden immer dreister.

In Rumänien lebt die größte Bärenpopulation Europas. Das Land galt jahrzehntelang als Paradebeispiel für das friedliche Zusammenleben mit Großraubtieren. Doch die Stimmung in der Bevölkerung ist gekippt, nachdem immer öfter Bären auf der Suche nach Futter im Siedlungsgebiet aufgetaucht waren.

Seit 2016 ist in Rumänien der Streit um die Braunbären in vollem Gange. Damals verbot die Regierung die Trophäenjagd auf die Großraubtiere. Abschüsse sind seither nur noch in Ausnahmefällen erlaubt, etwa wenn ein Bär eine unmittelbare Gefahr für Menschen darstellt. So verlangt es auch die Gesetzgebung der EU. Zwischen 2016 und 2021 wurden in Rumänien laut Umweltministerium 154 Bärenattacken auf Menschen registriert. 158 Personen wurden dabei verletzt, für 14 endete die Begegnung tödlich. Die Zahl der Angriffe hat auch den Druck auf die Regierung erhöht. Im April hat Umweltminister Barna Tánczos den Abschuss von 426 Bären bis Mai 2024 erlaubt.

Barbara Promberger glaubt nicht, dass eine Erhöhung der Jagdquote das Bärenproblem lösen wird. Es gebe weder genaue Zahlen zur Bärenpopulation, noch sei nachgewiesen, dass die Probleme mit dem Jagdverbot zusammenhängen. Auch wenn sie nicht prinzipiell gegen Abschüsse ist. Im Nationalpark Königstein würden im Ernstfall ebenfalls Braunbären entnommen – jedoch nur als letzte Stufe des Problemmanagements, das vorwiegend aus Prävention durch Elektrozäune und Schutz durch Karpatenschäferhunde bestehe. Zudem gebe es eine schnelle Eingreiftruppe, die Bären vergrämt und mit Gummigeschoßen oder Hunden verjagt.

Ein ausgewachsener Braunbär am Straßenrand bei Vidraru-Stausee.
Stefanie Ruep

Promberger sieht andere Faktoren für den Anstieg der Population. Die Landnutzung habe sich in Rumänien massiv verändert. "Was früher Wiesen waren, ist heute verbuscht", sagt die Biologin – weil viele die Landwirtschaft nicht mehr hauptberuflich betreiben. So komme der Bär auch näher ans Siedlungsgebiet heran. Hinzu kommen die Auswirkungen des Klimawandels. Früher seien Bären, die Anfang Dezember nicht fett genug waren, im Winter gestorben. Nun gehen manche gar nicht mehr in den Winterschlaf.

Nach der bärenreichen Fahrt auf dem waldigen Abschnitt der Transfăgără șan rund um den Vidraru-Stausee heißt es noch einmal, sich zu überwinden. Sollen wir hier aus dem Auto aussteigen und zu einer Wanderung aufbrechen, obwohl 500 Meter vor dem letzten Tunnel erneut ein ausgewachsener Bär am Straßenrand saß? Zwei einheimische Wanderer schnüren ihre Schuhe und starten ihre Tour in die Schlucht Valea lui Stan. Fritz und ich folgen ihnen. Ich singe laut Hits der 90er-Jahre, und Fritz ruft wieder: "Go away bear." (Stefanie Ruep, 25.10.2024)