Sie kann guten Gewissens als eine Pionierin bezeichnet werden. Mit elf absolvierte Daniela Iraschko-Stolz in ihrem Heimatort Eisenerz den ersten Sprung von der Schanze. Ihre Eltern hat sie vom Skispringen erst überzeugen müssen – Mitte der Neunzigerjahre spielten Frauen in jenem Sport kaum eine Rolle. 2011 erlebte sie die Geburtsstunde des Frauen-Skisprung-Weltcups, beim ersten Damen-Skispringen der Olympischen Winterspiele in Sotschi gewann sie 2014 Silber. Iraschko-Stolz war auch die Erste, die beim Skifliegen an der 200-Meter-Marke kratzte.

Daniela Iraschko-Stolz kümmert sich nun um den Skisprung-Nachwuchs.
Daniela Iraschko-Stolz kümmert sich nun um den Skisprung-Nachwuchs.
Fabian Mühleder

STANDARD: Sie wurden in Ihrer Karriere Adlerin, Überfliegerin, "Miss 200 Meter" genannt. Welche Bezeichnung war Ihre liebste?

Daniela Iraschko-Stolz: Eigentlich kann ich mit allen drei Bezeichnungen wenig anfangen. Wenn ich mich entscheiden müsste, dann am ehesten noch für die Adlerin.

STANDARD: Tut der Abschied vom Spitzensport mit Ende 30 besonders weh?

Iraschko-Stolz: Das kommt immer auf die Umstände an. Ich bin ja nicht aus Altersgründen, sondern wegen meiner Knieverletzung aus dem Spitzensport ausgestiegen. In einem solchen Fall ist ein Abschied nie eine positiv besetzte Sache. Aber das nutzt nichts, man muss nach vorne schauen.

STANDARD: Wie lang hat sich die Entscheidung hingezogen?

Iraschko-Stolz: Ich habe ein Jahr lang meinen Fuß nicht gespürt und konnte nicht gehen. Ich habe dann Rehas und Therapien gemacht – immer mit dem Ziel, wieder auf die Schanze zurückzukehren. Es hat dann knapp nicht gereicht. Ich wurde wieder operiert, dann ging es mir besser. Letztlich war es eine Vernunftentscheidung, die ich recht schnell getroffen habe. Damit bin ich auch zufrieden: Ich habe den Umständen entsprechend das Beste aus meinem Körper herausgeholt. Das war es mir wert.

STANDARD: Gibt es im Sport den idealen Zeitpunkt fürs Aufhören?

Iraschko-Stolz: Die meisten Sportlerinnen und Sportler hören auf, wenn der Erfolg ausbleibt oder sich andere Türen auftun. Für mich hätte es diesen Moment wahrscheinlich nie gegeben. Das Skispringen war immer meine größte Leidenschaft. Ich hätte so lange weitergemacht, bis es nicht mehr gegangen wäre. Leider habe ich mich schon sehr früh schwer verletzt. Es war absehbar, dass das Knie meine Karriere eines Tages beenden würde. Dafür habe ich den Sport vergleichsweise lange und erfolgreich ausüben können.

STANDARD: Wann endet eine Skisprung-Karriere normalerweise?

Iraschko-Stolz: Wenn es gesundheitstechnisch gut läuft, kann man den Beruf bis Mitte 40 ausüben. Der Schweizer Simon Ammann beispielsweise ist Anfang 40 und noch aktiv. Allerdings wird es mit zunehmendem Alter schwierig, Spitzenleistungen zu bringen. Zum Spaß von einer Schanze springen kann man theoretisch auch noch mit 100, wenn der Körper es zulässt. An Wettkämpfen teilzunehmen ist hingegen eine andere Nummer.

STANDARD: Braucht es als Sportlerin einen Plan B fürs Leben danach?

Iraschko-Stolz: Theoretisch ja. Es ist sinnvoll, eine Absicherung zu haben. Wenn alle Stricke reißen, kann ich aufgrund meiner Ausbildung bei der Polizei arbeiten. Ich werde mich aber erst einmal als Trainerin um den Nachwuchs kümmern. Leider ist das noch nicht lukrativ.

STANDARD: Sind Sie schon wehmütig?

Iraschko-Stolz: Mit meiner Entscheidung habe ich abgeschlossen, aber ich habe vor, die Reha fortzusetzen, damit ich zur Gaudi wieder springen kann. Der Abschied ist aber bisher weniger schlimm als erwartet.

STANDARD: Woran liegt das?

Iraschko-Stolz: Mein Leben ist jetzt zwar anders als vorher, aber ich habe viel zu tun. Die größte Angst hatte ich davor, nichts zu finden, was mir annähernd so viel Spaß macht wie das Skispringen. Ich habe für das Nachwuchstraining schnell dieselbe Leidenschaft entwickelt wie früher für den Sport in meiner aktiven Zeit. Meine Sorge gilt eher finanziellen Fragen. Im Nachwuchsbereich eine Anstellung zu bekommen ist schwer. Und nur sporadisch zu trainieren ist weder für die Kinder noch für mich gut. Aber ich möchte das jetzt ein Jahr lang ausprobieren. Vielleicht lässt sich ja mit Sponsoren etwas aufbauen. Die Kinder sind heute leider viel weniger in Bewegung als früher, können weniger.

STANDARD: Woran liegt das?

Iraschko-Stolz: Möglicherweise am Bildungssystem? Wenn im Sportunterricht alles abgesichert werden muss, wird es kompliziert. Früher ist man als Kind allein von der Schule nach Hause gegangen und noch irgendwo herumgekraxelt. Das geht so nicht mehr, die Eltern müssen bei jeder Kleinigkeit aufpassen, dass sie nicht angezeigt werden. Weil oft beide Elternteile arbeiten, haben sie weniger Zeit. Es ist für alle schwieriger geworden, man kann niemandem die Schuld zuweisen.

Daniela Iraschko-Stolz: "Ich musste lange neben dem Sport arbeiten – ich bin 30 Jahre zu früh auf die Welt gekommen."

STANDARD: Sie haben mit acht Jahren ins Poesiealbum geschrieben: "Ich will zu Olympia."

Iraschko-Stolz: Von dem Eintrag habe ich sogar noch ein Foto. Das muss in jener Zeit gewesen sein, in der ich unbedingt Ski springen wollte, weil ich es im Fernsehen gesehen habe. Weil ich nicht anfangen durfte, habe ich mit dem Fußballspielen begonnen.

STANDARD: Skilanglauf haben Sie abgelehnt …

Iraschko-Stolz: Ich bin eigentlich ein Fan von nordischen Sportarten wie dem Langlauf. Das Problem war, dass ich diesen Sport als Kind ausüben musste. Ich wollte die Sporthauptschule besuchen, Springen durfte ich nicht, für Volleyball war ich zu klein, es gab nicht viele andere Möglichkeiten. Beim Skifahren habe ich mit Wehmut Richtung Sprungschanze geschaut. Mit elf habe ich dann endlich begonnen.

STANDARD: "Alle Jungs dürfen Ski springen, aber ich nicht", haben Sie damals gesagt. Gab es viele Ungerechtigkeiten zu bekämpfen?

Iraschko-Stolz: So würde ich das nicht formulieren. Ich war einfach ein bisschen früh dran fürs Skispringen. Man muss sich vorstellen, dass es in meinen Anfängen keinen Weltcup oder Continental Cup der Frauen gab. Wäre das der Fall gewesen, müsste ich heute nicht mehr arbeiten. Es wäre auch toll gewesen, wenn das Skispringen 2010 in Vancouver für Frauen olympisch gewesen wäre. Ich bin 30 Jahre zu früh auf die Welt gekommen. Aber so habe ich wenigstens ein bisschen Geschichte geschrieben. Dafür musste ich lange nebenher arbeiten, um überhaupt Geld zu verdienen. Am Schluss hat sich das Blatt für mich gewendet.

STANDARD: Sie und Ihre Kolleginnen haben damals 300 Euro Preisgeld für einen Sieg bekommen ...

Iraschko-Stolz: Das Preisgeld muss eben auch irgendwer zahlen. Selbst heute, 25 Jahre später, ist der Damenweltcup für den Veranstalter ein Minusgeschäft. Natürlich wäre es wünschenswert, dass die Preisgelder der Frauen an jene der Männer angepasst werden, in der Arbeitswelt sollte das ja auch so sein. Gleichzeitig stellt sich die Frage, woher das Geld kommen soll. Die Männer sind präsenter, ihre Sprünge werden eher im Fernsehen übertragen, es kann mehr ausgeschüttet werden.

STANDARD: Erinnern Sie sich an Ihren ersten Sprung?

Iraschko-Stolz: Es gab in Eisenerz damals keine kleine Schanze, deshalb bin ich gleich rauf auf 40 Meter. Mein Trainer Gerhard Niederhammer hat mich einfach in die Spur gesetzt. Das war eine echte Herausforderung. Heute wäre ein Start auf dieser Höhe gar nicht zu verantworten, normalerweise beginnt man bei fünf Metern und steigert sich auf zehn, 15, 20 Meter. Das waren andere Zeiten, man besaß damals mehr Survival-Fertigkeiten.

STANDARD: Ihre herausragendste Eigenschaft neben Ehrgeiz?

Iraschko-Stolz: Wahrscheinlich Mut. Man kann sich beim Skispringen nicht langsam an den Sprung herantasten oder wie beim Salto von Trainern absichern lassen. Einen Sprung muss man von Anfang bis Ende durchziehen.

Daniela Iraschko-Stolz
Daniela Iraschko-Stolz blickt weitestgehend ohne Wehmut auf ihre Karriere zurück.
Fabian Mühleder

STANDARD: Das Sportidol Ihrer Kindheit?

Iraschko-Stolz: Einige! Die Geschichte der Fußballspielerin Megan Rapinoe habe ich verfolgt, der American-Football-Spieler Patrick Mahomes taugt mir auch. Die Tennisspielerin Martina Navratilova fand ich immer spannend, weil sie eine ähnliche Geschichte wie ich hatte. Das Damentennis war in ihren Anfängen irrelevant, sie war eine Pionierin und hat den Tennissport groß gemacht.

STANDARD: Zu welcher Skischanze haben Sie die innigste Beziehung?

Iraschko-Stolz: Die große Schanze in Stams kann ich gefühlt blind hinunterspringen. Auch wenn es mal nicht so gut lief, hat sie immer funktioniert. Die Schanze war wie maßgeschneidert, dort habe ich die meisten Sprünge gemacht.

STANDARD: Wie unterscheiden sich die Schanzen?

Iraschko-Stolz: Heute nicht mehr so sehr wie früher. Die neuen Schanzen haben ähnliche Flugkurven und sind so gebaut, dass niemand mehr davonfliegt, es landen alle innerhalb eines Radius von 20 Metern. Früher hatten die Schanzen mehr Charakter. Die Schanze in Bischofshofen ist im Weltcup die einzige, die durch ihren flachen langen Anlauf einen eigenen Charakter besitzt.

STANDARD: Jemals Angst gehabt vor einer Schanze?

Iraschko-Stolz: Angst? Jein. Eher Respekt. Wenn man beispielsweise bei besonderen Windverhältnissen auf einer unbekannten Schanze unterwegs ist.

STANDARD: Wie viel Angst darf man als Spitzensportlerin haben?

Iraschko-Stolz: Wenn man sich Angst eingesteht, ist das sicher kein Fehler. Wichtig ist, sie gleich zu überwinden.

STANDARD: Wie haben Sie das gemacht?

Iraschko-Stolz: Ich habe mir als Regel aufgestellt, nach einem Sturz möglichst gleich wieder zu springen. Wenn man nicht über einen schlechten Sprung schlafen muss, baut sich die Angst nicht weiter auf. Das vermittle ich auch dem Nachwuchs.

STANDARD: Wie fühlt sich Fliegen an?

Iraschko-Stolz: Wenn ein Sprung richtig gut gelingt, fühlt man sich leicht und muss gar nichts mehr tun. Wenn es nicht so gut läuft, muss man Fehler kompensieren und in der Luft kämpfen. Auch wenn man dieses Hochgefühl nur bei einem von hundert Flügen erlebt, kommt man vom Springen nicht mehr weg. Ich würde dieses Gefühl, wenn alles passt, als Sucht bezeichnen.

STANDARD: Warum kennen nur Insider die Namen von Skispringerinnen wie Anita Wold, Tina Lehtola oder Eva Ganster?

Iraschko-Stolz: Das sind die ersten Springerinnen, die irgendwann einmal über eine Schanze gehüpft sind. Diese Vorreiterinnen braucht es, aber warum sollten die Jungen sie kennen? Karrieren dauern oft nicht lange an. Wenn man nicht in den Medien präsent ist, kann es schnell passieren, dass einen die nächste Generation nicht mehr kennt. 1997 hat der erste Wettkampf der Damen stattgefunden, selten springt jemand so lange auf einem hohen Niveau mit.

STANDARD: Sie haben für den Sport zuletzt auch Ihre Ernährung umgestellt. Werden Sie nun wieder guten Gewissens Süßes essen können?

Iraschko-Stolz: Auch! Ich habe ein Jahr lang zuckerfrei gelebt, was sich in den ersten Wochen wie ein kalter Entzug angefühlt hat. Das werde ich nun nicht mehr tun. Aber ich achte darauf, es mit den Süßigkeiten nicht zu übertreiben, damit meine Entzündungen nicht gefüttert werden. Ich habe es mit der Konsequenz zeitweise übertrieben, nur in Reformhäusern eingekauft, das ging ins Geld.

STANDARD: Haben Sie auf viel verzichten müssen?

Iraschko-Stolz: Ich hatte eine andere Kindheit, musste viel trainieren, habe alles dem Sport untergeordnet. Mir ist das zum Glück nie schwergefallen. Wenn ich klare Ziele hatte, war ich diszipliniert. Eine Heilige war ich aber nicht.

STANDARD: Was waren denn Ihre kleinen Sünden?

Iraschko-Stolz: Die verrate ich Ihnen sicher nicht.

STANDARD: Welche Sportfrage können Sie nicht mehr hören?

Iraschko-Stolz: Warum ich aufgehört habe. Oder ob ich nicht noch gerne springen würde. Diese Fragen mag ich nicht, weil die Antworten klar sind.

STANDARD: Wer hat sich über Ihren Abschied vom Spitzensport am meisten gefreut?

Iraschko-Stolz: Alle! Nein, gefreut ist der falsche Ausdruck. Dass das Leiden rund um die Verletzungen vorbei ist, erleichtert meine Familie. Ein paar Konkurrentinnen werden sich aber schon gefreut haben.

STANDARD: Was hat sich seither verändert? Schlafen Sie nun aus?

Iraschko-Stolz: Im Gegenteil, ich bin sogar mehr auf der Schanze als früher. Die Wege sind allerdings kürzer geworden, ich bin nicht mehr so viel unterwegs. Ich hatte zuvor ein echtes Luxusleben, mit dem Olympiastützpunkt in Innsbruck war alles organisiert, ich musste mich um nichts kümmern. Jetzt verwalte ich den Kalender wieder selbst.

STANDARD: Wo bewahren Sie Ihre Medaillen auf?

Iraschko-Stolz: Falls alle Stricke reißen, schmelze ich sie ein. (lacht) Meine Frau Isi verwaltet zu Hause die Optik. Alle Auszeichnungen, die in die Wohnung passen, lässt sie stehen. Die anderen verschwinden. Das können auch besondere Pokale sein – was hässlich ist, gehört weg und landet dann auf dem Dachboden der Eltern.

STANDARD: Eine Träne vergossen?

Iraschko-Stolz: Als ich für mich die Entscheidung getroffen habe, sogar sehr viele. Das ist wahrscheinlich normal. Es ging für mich eine wunderschöne Zeit zu Ende.

STANDARD: Welche Ratschläge möchten Sie dem Skisprung-Nachwuchs mitgeben?

Iraschko-Stolz:Seid konsequent, probiert Dinge aus, seid mutig, gebt euch nicht so schnell mit einem "Passt schon" zufrieden. (RONDO Exklusiv, Anne Feldkamp, 3.11.2023)