Brennende Musikinstrumente, Taliban
Taliban verbrennen unweit von Herat, der zweitgrößten Stadt des Landes, konfiszierte Musikinstrumente. Das Foto entstand im Juli 2023.
IMAGO/ABACAPRESS

Die letzten Jahrzehnte haben viele Gassen Kabuls verändert. Während ihre einstigen Bewohner vor Krieg und Terror geflüchtet sind, haben sich andere – meist deutlich ärmere Afghanen aus anderen Provinzen – in der afghanischen Hauptstadt angesiedelt. Eine Entwicklung, die unter anderem zu einem rasanten Anstieg der Einwohnerzahl geführt hat. Ähnliches ist auch in Kharabat in der Kabuler Altstadt der Fall. Einst lebten hier viele Sikhs und Hindus. Mittlerweile haben die meisten Mitglieder dieser religiösen Minderheiten aufgrund von Verfolgung und Unterdrückung das Land verlassen. Der naheliegende Sikh-Tempel steht leer und ist verriegelt. "Die sind schon längst in Indien oder in Kanada", sagt ein Händler, der neben dem Tempel arbeitet.

Die Gesichter Kharabats

Wer durch die Gasse von Kharabat läuft, bemerkt viele Gesichter, die nicht nur Besuchern neu erscheinen. Einige von ihnen sprechen Paschto. Andere Farsi-Dialekte aus den nördlichen Regionen des Landes. Das originale Kabuli, sprich der persische Dialekt der afghanischen Hauptstadt, ist zwar noch da. Allerdings ist er etwas rarer geworden.

"Hier hat sich vieles verändert, doch solange wir hier sind, wird vieles auch gleich bleiben", sagt Asadullah Cheshti lächelnd. Er trägt einen sauberen, weißen Peran Tumban, eine grünschimmernde Weste und hat seine langen, weißen Haaren elegant zurückgekämmt. Seine etwas dunklere Hautfarbe lässt erahnen, dass Cheshtis Vorfahren, ähnlich wie die meisten "echten" Kharabatis, vor Jahrhunderten von Indien nach Afghanistan kamen – und ihre traditionelle Musik hierherbrachten.

Keine Lieder mehr

Bis heute ist Kharabat bekannt als das einst ehrwürdige Musikerviertel Kabuls. Praktisch alle Meister der klassischen afghanischen Musik, Männer wie Mohammad Hossain Sarahang, Abdul Mohammad Hamahang oder Rahim Bakhsh, stammten von hier. Der 60-jährige Cheshti kennt Kharabat wie seine Westentasche. Kein Wunder, denn auch er gehört zu den Meistern seiner Zunft. Seit fast einem halben Jahrhundert spielt er die Tabla. Cheshti ist mit den zwei Trommeln praktisch aufgewachsen und gehörte zu den Schülern einer weiteren Legende aus Kharabat, Mohammad Hashem Cheshti, dessen Beinamen er aus Respekt vor seinem Meister angenommen hat.

Heute sollte es eigentlich Asadullah Cheshti sein, der die nächste Generation der Tabla-Spieler Kharabats ausbildet. Doch seitdem die militant-islamistischen Taliban im August 2021 abermals die Macht im Land übernommen haben, wird weder ein Instrument gespielt noch ein Lied gesungen. Bereits während des ersten Taliban-Regimes der 1990er-Jahre erließen die Extremisten ein Musikverbot. Fernsehgeräte und Kassetten wurden beschlagnahmt und zerstört, Musiker:innen verbannt.

Fünf Jahre lang herrschte in Afghanistan Totenstille. Mittlerweile erscheint zumindest nicht alles so schlimm wie damals. Die "neuen" Taliban sind aber in vielerlei Hinsicht weiterhin die alten. Ihre Ideologie sei mit Musik nicht vereinbar. In einigen Regionen des Landes wurden Instrumente zerstört und Musiker gefoltert. Wer im Auto mit Musik erwischt wird, hat nicht immer, aber meist mit Problemen oder zumindest dummen Sprüchen seitens der Taliban-Fußsoldaten zu rechnen.

Video: Musiker in Kabul leben in Angst um sich und ihre Instrumente.
AFP

Arbeitslose Musiker

Radiosender spielen nur noch Koranverse. Auf Hochzeiten darf keine Livemusik mehr gespielt werden, weshalb die eigenen Youtube-Playlisten herhalten müssen. Hierfür muss man sich im Vorfeld meist mit den lokalen Taliban-Kämpfern arrangieren und sie gegebenenfalls mit einer warmen Mahlzeit oder Bargeld schmieren. Alle Musiker, auch jene wie Asadullah Cheshti und seine Söhne in Kharabat, sind arbeitslos geworden und müssen sich anderweitig über Wasser halten. "Wir haben nichts anderes gelernt. Wir können nicht plötzlich einen Laden führen oder Essen verkaufen", beschwert sich Cheshti und erklärt, dass er praktisch zum Scheitern verurteilt sei. Viele seiner Zunft hätten das Land verlassen, doch er wollte diesmal bleiben.

Wie viele Afghan:innen lebte einst auch Cheshti jahrelang als Geflüchteter im Nachbarland Pakistan. Er musizierte in den Flüchtlingslagern Peschawars und in den Gasthäusern Waziristans. Sein Handwerk wurde geschätzt. Selbst die Taliban wissen, dass die Musiker Kharabats keine billigen Hochzeitssänger sind, die mittels Autotune und Youtube nach Berühmtheit und viel Geld lechzen, sondern echte Meister, deren Gesänge und Musik meist mit vielen Aspekten des spirituellen Islams und des Sufismus zusammenfließen.

Musik an den Checkpoints

"Sie kamen hierher, sahen unsere Instrumente und meinten etwas ehrfürchtig, dass von nun an nicht mehr gespielt werden dürfe", sagt Asadullah Cheshti, während einer seiner Söhne in einem kleinen Kiosk sitzt und einem Kunden Energydrinks und Zigaretten verkauft. Den Kiosk kaufte Cheshit mit seinem letzten Ersparten, um die Existenz seiner Familie zu sichern. Früher war der Tabla-Meister ausgebucht und seine Söhne studierten die Musik, um irgendwann in die Fußstapfen des Vaters zu treten.

Während die Taliban der bekannten afghanischen Musik den Krieg erklärt haben und Asadullah Cheshti und anderen Musikern ihr Leben erschweren, sind sie es ironischerweise selbst, die eine etwas andere Art der Musik hören. "Sie haben Musik verbannt. Doch Ihre Kämpfer hören an ihren Checkpoints Musik. Können Sie das erläutern? Was für Musikvorlieben haben Sie?", fragte eine ausländische Journalistin den Taliban-Sprecher Zabihullah Mujahid während eines Interviews, das in den sozialen Medien verbreitet wurde, vor rund einem Jahr.

Religiöse Kampfgesänge

Mujahid antwortete daraufhin, dass er gar keine Musik hören würde und dass dies auch für seine Kämpfer der Fall sei. Vielmehr würden sie sich religiösen Kampfgesängen, sogenannten Taranas, die meist über Taliban-Kanäle verbreitet werden, widmen. Diese würden allerdings gar keine Musik im eigentlichen Sinne darstellen. Ein Mann, der dem widerspricht, ist der afghanische Musikologe Mirwaiss Sidiqi, der einst klassische Musik in Kabul unterrichtete und in den letzten zwanzig Jahren vor Ort für verschiedene Institutionen wie die Aga-Khan-Stiftung tätig gewesen ist.

Sidiqi wirkte und studierte unter anderem in Frankreich, Großbritannien und Deutschland. Er ist ein weltgewandter Kosmopolit, der neben Persisch und Paschto Deutsch, Französisch und Englisch spricht. "Die Taliban hören Musik, aber sie wollen es nicht zugeben. Ihre Taranas sind nichts anderes als Musik", sagt Sidiqi während einer Veranstaltung im vergangenen Juni in Wien.

Afghanische Popmusik

Dann erklärt er, dass sich die Taliban an bekannten Tönen und Rhythmen orientieren würden, um ihre eigene Musik zu komponieren. "Sie wenden sich hierfür sogar an bekannte Sänger und verlangen von ihnen, Taranas zu produzieren", so Sidiqi. Während seines Vortrags an der Wiener Universität für Musik und darstellende Kunst zeigt Sidiqi Videoausschnitte von privaten Konzerten und Hochzeiten aus dem Kabul der 1970er- und 1980er-Jahre, dem Zeitalter der afghanischen Popmusik.

Besonders prägnant ist etwa eine Aufzeichnung der bekannten Sängerin Hangama, die damals offenes, kurzes Haar trug und westliche Kleidung trug. Ein Anblick, der nicht nur heute unter dem Taliban-Regime, sondern auch im Kabul der letzten zwanzig Jahre unvorstellbar gewesen wäre. Während Sidiqi die Szenen und die Musik beschreibt, wird er für wenige Momente emotional.

Singende Frauen

Ähnlich verhält es sich mit vielen Afghan:innen im Publikum, die aufgrund von Sidiqis Vortrag in ihrer eigenen Nostalgie schwelgen. Damals das vermeintlich friedvolle Kabul, in dem musiziert und getanzt wurde. Heute das dunkle Regime der Männer mit den schwarzen Turbanen. Die Vorstellung von Heimat innerhalb der afghanischen Diaspora unterscheidet sich meist in vielerlei Hinsicht von den Realitäten der Menschen vor Ort. Der Beruf des Musikers wird etwa nicht nur von den Taliban verachtend abgelehnt, sondern auch von weiten Teilen der traditionell-konservativen Gesellschaft. Singende Frauen werden nicht nur von Fundamentalisten und Fanatikern mit Prostituierten gleichgestellt.

Bekannte afghanische Musiker wie Sadiq Fitrat, hauptsächlich bekannt als "Nashenas" ("Der Unbekannte"), sangen jahrelang, während sie gleichzeitig die Wut ihrer Väter fürchteten und deshalb anonym blieben. Auch die einstigen Events mit Popikonen wie Hangama oder ihrem bekannten musikalischen Partner, Ahmad Wali, waren nicht repräsentativ für ganz Afghanistan, sondern nur für eine kleine, bürgerliche Blase in Kabul.

Asadullah Cheshti kennt alle bekannten Musiker:innen Afghanistans, doch sein Metier unterscheidet sich, ähnlich wie sein ganzes Leben, deutlich von jenem einer Hangama. Immerhin lebt diese seit Jahrzehnten in Kanada, während der Tabla-Meister in der Gasse von Kharabat verblieben ist. Dass die Taliban trotz vehementen Leugnens tatsächlich Musik hören würden, bestätigt allerdings auch Cheshti. "Natürlich ist auch das, was sie hören, eine Form von Musik. Vielleicht sehen sie das irgendwann ein und gestatten uns dann wieder, unserer Berufung nachzugehen", sagt er lächelnd. (Emran Feroz, 1.11.2023)