Handy
Haben Apps in ihrer Wirkung vielleicht mehr mit bewusstseinsverändernden Drogen zu tun als mit herkömmlichen Werkzeugen?
IMAGO/Silas Stein

"The real problem is not whether machines think but whether men do. The mystery which surrounds a thinking machine already surrounds a thinking man." – B. F. Skinner

Während der Corona-Pandemie wurde noch einmal klar, wie schwer es Menschen fällt, die Wucht exponentieller Steigerung zu erfassen. Sie bleibt für den intellektuellen Apparat unbewältigbar, passt nicht in den Rahmen menschlicher Intuition. Menschen können sich diesen Riesensprüngen der Vervielfältigung nur annähern, mit Bildern und Geschichten wie der vom Reiskorn und dem Schachbrett.

Exponentielles Wachstum

Der Legende nach soll sich der Brahmane Sissa ibn Dahir von seinem Herrscher die Reismenge gewünscht haben, die sich nach der Schachbrett-Verdoppelungsformel ergibt, also ein Reiskorn auf dem ersten Feld, zwei Reiskörner auf dem zweiten, vier auf dem dritten, acht auf dem vierten und so weiter, immer weiter verdoppelt, Feld für Feld. Ein Schachbrett hat vierundsechzig Felder, dreiundsechzigmal das Vorhergehende zu verdoppeln beschreibt die Exponentialfunktion. Und sich so viel Reis zur Belohnung zu wünschen ist das Gegenteil von Bescheidenheit, als die es der Herrscher im ersten Moment intuitiv bewertet.

Seit dem Beginn des Computerzeitalters wächst in der Technik so vieles, von den Rechenleistungen der Hardware bis zu den erreichbaren Sende- und Speicherkapazitäten, exponentiell an, aber die umstürzenden Folgen für die Menschen werden ausgeblendet.

Manipulative Anteile

Auch deshalb trifft der oft trotzig wiederholte Satz grandios daneben, dem zufolge man ein Werkzeug (also etwa Twitter) doch wirklich nicht dafür verantwortlich machen könne, wie Menschen es einsetzten. Auch andere Werkzeuge seien schon missbräuchlich verwendet worden, auch mit einem Rad oder einem Hammer könne man einen Mord begehen.

In der Summe ihrer Wirkung haben Apps und vor allem die sozialen Medien aber mit herkömmlichen Werkzeugen viel weniger zu tun als mit bewusstseinsverändernden Drogen – doch muss man die absichtlich manipulativen Anteile der Programme hierfür noch gar nicht bemühen. Es würde schon reichen, die neue digitale Lebenswirklichkeit mit den allerersten Feldern zu vergleichen, auf denen nur eine Handvoll Reiskörner liegt, um die Unterschiede zu sehen: Wir leben erst seit einem Dutzend Jahren inmitten der unbewältigbaren Exponentialität und tun weiterhin so, als wäre alles wie früher. Ist das tapfer oder dumm?

Briefe, E-Mails, WhatsApp

Womit haben Menschen jahrtausendelang über Entfernungen kommuniziert? Mit Briefen. Digitale Kommunikation dagegen, egal ob über E-Mails, Messengerdienste oder soziale Medien, unterscheidet sich davon kategorial, alle bisher etablierten digitalen Formen verhalten sich grundlegend anders.

Sie sind viel mehr als einfach technischer Fortschritt. Sie sind nicht bloß "unstofflich", weil sie nur auf Bildschirmen erscheinen, nein, sie haben auch alle anderen entscheidenden Parameter verändert: durch ihre Geschwindigkeit, ihre Unmittelbarkeit trotz räumlicher Distanz, dadurch, dass sie unendlich vervielfältigbar und, last, but not least, prinzipiell unlöschbar sind. Digitale Kommunikation erzeugt fatale Illusionen von Gleichzeitigkeit und Nähe. Durch klassische Sinnestäuschung rückt einem die große, furchtbar komplizierte und gewalttätige Welt dauernd auf den Pelz.

Twitter-Wellen

Kann man, ständig an den Geräten hängend, die Informationen überhaupt noch in die Reihenfolge ihrer Wichtigkeit bringen, wenn die beruflichen Projekte, die Diskussionen in Familien-, Nachbarschafts- und Mietergruppen, die Twitter-Wellen und Breaking News von Kriegen, Naturkatastrophen und Flugzeugabstürzen mehr oder weniger gleichzeitig und abwechselnd einströmen?

Geschehen nicht automatisch kommunikative Übersprungshandlungen nach dem Watzlawick’schen Muster ("Behalten Sie Ihren Hammer, Sie Rüpel!"), einfach, weil man jederzeit zurückfeuern kann? Auf Twitter gibt es täglich Beispiele für solche osmotischen Schwappungen, wenn ganz unterschiedliche Themen einfach qua überschießender Emotionalität vernäht werden: "Gerade sind wieder 34 Menschen vor Malta ertrunken: Und Sie haben nichts Besseres zu tun, als ..."

Auf Twitter mit seinen Journalistenballungen lässt sich außerdem gut beobachten, dass berufsmäßig Schreibende besonders gefährdet sind, aus den schriftlichen Kämpfen nicht wieder hinauszufinden, sie nehmen selbst ihren Scheidungsanwälten die Formulierungen aus der Hand. Noch vor dem Frühstück entstehen bereits Kettenbriefe der Empörung.

Eva Menasse
Schreibt in ihrem neuen Buch auch über eine Ära der Gleichzeitigkeit: Eva Menasse.
Friedrich Bungert_SZ Photo

Rührende Begebenheiten

Dagegen früher, der gute alte Brief: Ich setze mich äußerst erregt hin, beginne, mit scharfen Worten zu schreiben, aber schon nach einer halben Seite und einem schmerzenden Handgelenk wird mir klar, dass das alles wenig lohnt und ich mich vielmehr lächerlich mache.

Oder: Ich habe diesen Brief wie ein Laserschwert zwar heißblütig zu Ende geschrieben und mit Nachdruck zugeklebt, aber jetzt fehlt mir die Briefmarke. Also fange ich doch an, zu überlegen ... War es richtig, mit "Sie unbelehrbares Arschloch" zu enden? Soll ich wirklich den ganzen Brief noch einmal schreiben, nur um diese überzogene Schlussformel zu eliminieren? Oder einfach zerreißen und Schwamm drüber? Von den Älteren kennt fast jeder eine Geschichte, wo – aus welchen Gründen auch immer – jemand demütig neben einem Briefkasten ausgeharrt hat, bis endlich der Entleerer kam, den man flehentlich bat, einen bereits eingeworfenen Brief heraussuchen und wieder an sich nehmen zu dürfen. Rührende Begebenheiten, die von heute aus so historisch klingen, als wären sie aus Doderers Zeit, als er beim Ulanenregiment einrückte, mit achtzehn Jahren und dem vorgeschriebenen eigenen Pferd ...

Die Bedeutung der Zeit

Zeit spielt die bedeutendste Rolle, sie ist ein entscheidender Faktor. Beschleunigung ist nämlich kein Wert an sich, beinahe im Gegenteil. Das könnten wir inzwischen zwar begriffen haben, aber der Vergleich zwischen dem alten Brief einerseits, der Mail und allen Messengerdiensten andererseits macht es noch einmal deutlich. Zeit zu haben, sie zu verschwenden und zu verlieren ist möglicherweise gerade das, was den sterblichen Menschen von seiner Technik unterscheidet.

Der unbezähmbare menschliche Trieb, Neues zu erfinden, kommt ja wahrscheinlich daher, dass sich Menschen seit jeher in die Zukunft verlängern wollen, über ihre individuell erreichbare Lebenszeit hinaus, dass die Menschheit seit jeher die Zeit und den Tod besiegen will. Und obwohl es eigentlich nicht unmittelbar zusammenhängt, haben viele Erfindungen im Laufe der Jahrhunderte alles kontinuierlich beschleunigt, bei gleichzeitig deutlicher Verlängerung der Lebenszeit. Ist also der Punkt erreicht, wo wir uns – nicht nur kommunikativ – selbst überholen, uns selbst nicht mehr nachkommen und damit zerreißen?

Im Falle des altmodischen Briefeschreibens wirkte die Zeit wie ein Airbag, der eine Menge Fehler und Katastrophen verhinderte. Niemand wird widersprechen, dass die Anzahl der zerrissenen, niemals abgeschickten Briefe die der zugestellten um ein Vielfaches überschreitet. Und die der aufbewahrten und erhaltenen, somit publizierbaren, sowieso. Aber dieser Airbag aus Zeit ist restlos vernichtet, nicht einmal etwas von der Dicke eines Bremsbelags ist übrig geblieben. Onlinekommunikation funktioniert fast so affektiv wie Sprechen: tippen, senden, weg – uneinholbar, nie wieder einzufangen.

Auch das ist typisch Mensch: Er beschuldigt immer erst die anderen, bevor er den Fehler bei sich sucht.

Hinzu kommt, dass die unnatürliche Kombination ihrer Eigenschaften – zeitlich unmittelbar, aber räumlich fern – hochproblematisch ist. Denn eine solche Kombination neigt nicht nur zur Gewalt, sie fordert sie sogar. Es ist vergleichbar mit der Erfindung des Schwarzpulvers und der Handfeuerwaffen. Vorher musste man dem Feind noch nahe treten, um ihn zu erschlagen oder zu erstechen, einschließlich aller damit verbundenen Sinneseindrucke.

Seither geht das auf Entfernung: bloß ein Punkt, auf den man zielt, dann macht man den Finger krumm. Das ist unpersönlicher, kälter und kommt ohne Blut an den Händen aus. Irgendwohin ins Blaue schießen, und weit weg hinter den Linien, unsichtbar, fällt vielleicht einer um – das taugt auch als Metapher für den verbalen Umgang im Netz.

Für das Potenzial zur Enthemmung gibt es längst einen Fachbegriff – "online disinhibition effect". Die Digitalisierung aller Kommunikation ist eine hinreichende Erklärung für die Erosion und Brutalisierung des öffentlichen Diskurses, für die weitreichende Vernichtung von Anstand, Takt und Großmut zwischen Menschen, auch in friedlichen Ländern. Das ist messbar und strahlt zurück.

Giftiges Hybrid

Früher gab es nur zwei, voneinander streng geschiedene Möglichkeiten, sozusagen Aggregatzustände der Kommunikation. Es gab die gesprochene Sprache mit der ihr immanenten Gnade von Flüchtigkeit, Vergänglich- und Vergesslichkeit, die alle Affekte und Übertreibungen abschwächt und ausgleicht. Dazu zählt auch das Telefongespräch. Und auf der anderen Seite gab es die geschriebene Sprache, der etwas Überlegteres, Gültigeres, Gewichtigeres innewohnte, schon weil man viel mehr Zeit und Mühe darauf verwenden musste. Das Ergebnis (der Brief, das Flugblatt, das Buch) trug die Art seiner Entstehung als zusätzliche Qualität in sich. Es war haltbarer und bedeutsamer.

Heute haben wir ein giftiges Hybrid aus beidem. Der Unterschied zwischen gesprochen und geschrieben ist fast zur Gänze aufgehoben, denn selbst das, was man irgendwo murmelt, wird wahrscheinlich aufgezeichnet. Digitale Kommunikation feuert fast so schnell wie gesprochene Sprache, obwohl der Adressat im nebligen Irgendwo ist – sie erreicht ihn trotzdem. Niemand kann sich vor seinen verschiedenen Accounts verstecken, aber ohne sie zu leben schafft auch kaum einer. Gleichzeitig wirkt diese Kommunikation – trotz aller Tippfehler, albernen Emojis und verwackelten Videos – schon wegen ihrer Unlöschbarkeit gültiger, kann auch Jahre später hervorgeholt und als Beweisstück präsentiert werden. Und dazu tritt dann noch, wie in einem Fluch, Märchen oder in einer Epidemie, die schier unendliche Vervielfältigbarkeit.

Überall, auch in meinem Freundeskreis, gibt es Menschen, die völlig unkritisch E-Mails oder Messenger-Nachrichten an Dritte weiterleiten und nicht darauf achten, dass eine Sammelmail viele weitere, nicht öffentliche Adressen enthält oder an einer E-Mail noch ein langer Schwanz an alter, sensibler Korrespondenz hängt. Einfach klick und weiter, und weil es viele so machen, erscheinen all unsere erregten Diskussionen und komplizierten Gesetze zu den Themen Datenschutz und Ausspähung naiv und lächerlich.

Buchcover
Eva Menasse, "Alles und nichts sagen. Vom Zustand der Debatte in der Digitalmoderne". € 22,70 / 192 Seiten. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2023. Das Buch erscheint am 2. November.
Kiepenheuer & Witsch

Typisch Mensch

Auch das ist wiederum typisch Mensch: Er beschuldigt immer erst die anderen, bevor er den Fehler bei sich sucht. Dabei handelt es sich um zwei ganz verschiedene Themen. Während man politisch unbedingt Sorge dafür tragen muss, dass weder staatliche Institutionen noch Kapitalismusriesen wie Google oder Facebook ihre Kunden massenhaft ausspähen oder mit deren Daten Geschäfte treiben, muss jeder das eigene Verhalten im Netz einer mindestens ebenso kritischen Revision unterziehen. Diskretion im Netz gehört endlich gelernt.

Es reicht bei weitem nicht, Kinder auf diese Gefahren aufmerksam zu machen ("Poste mal nicht so viele Fotos von dir!"), solange sich die meisten verhalten wie "digital naïves", die glücklich mit den bunten Perlen, äh, Apps spielen, ohne Sinn dafür, warum sie ihnen geschenkt wurden. Niemand würde Pillen schlucken, die umsonst auf der Straße verteilt werden, im Gegenteil steigt die generelle Medikamenten- und Impfskepsis seit Jahren an, vielleicht in einem ähnlichen Ausmaß, in dem die wissenschaftliche Qualitätssicherung präziser wird. Aber wenn es um Gratis-Apps geht oder um das Kleingedruckte der Datenverarbeitung in den geliebten sozialen Medien, sind die meisten zu allem bereit.

Man könnte also argumentieren, dass das gute alte Briefgeheimnis in der digitalen Welt längst weitgehend außer Kraft gesetzt ist. Und zwar noch ohne die komplexen technischen Möglichkeiten der Böswilligen (hacken, Trojaner einschleusen, überwachen). Ganz freiwillig lassen wir uns durchschauen, und alle Gesetze und Regularien (wie etwa die EU-Datenschutz-Grundverordnung) hinken den technischen Möglichkeiten naturgemäß immer um Jahre hinterher. Wer ausschließen will, gehackt oder belauscht zu werden, wird sich daher hinsetzen und einen analogen Brief schreiben.

Rätselhaft flüchtig

Briefschreiber könnten die Dissidenten der Digitalmoderne sein – aber dieser Zauber kann schon von der Empfängerin gebrochen werden. Sobald sie ihr Handy zückt und den Brief fotografiert, wird dieser zur "digitalen Substanz", und diese "hat eine grundlegend neue Leichtigkeit. Die digitalen Dinge lassen sich ungleich leichter bewegen als zuvor, weltweit senden, empfangen, verändern, kopieren, mit anderen teilen, remixen" (Peter Glasner, "Kulturelle Atomkraft", Berliner Zeitung vom 26. August 2009).

So rätselhaft flüchtig die digitalen Dinge sind, betreten sie durch ihre Digitalisierung einen Raum, in dem theoretisch nichts mehr vergessen und verziehen werden kann. Der alte Briefgeheimnis-Paragraf bleibt derweil einfach im deutschen Grundgesetz stehen wie ein seltsames, ehrwürdiges Relikt aus alter Zeit, wie der Kölner Dom, dem die Datenströme, die ihn wirelessumtosen, ja auch nichts anzuhaben scheinen. Das sind schon beeindruckende Gleichzeitigkeiten. (Eva Menasse, 27.10.2023)