Kallioniemi.
Propagandaforscher Kallioniemi.
Kallioniemi

Pekka Kallioniemi forscht zur Interaktion von Mensch und Computer, und da vor allem zu russischen Desinformationskampagnen. Er ist es, der hinter dem Blog Vatniksoup steht. "Vatnik" beschreibt einen standhaft der russischen Propaganda Glaubenden. Kallioniemi zeichnet die Verbindungen von Akteuren in diesem Feld nach und verfolgt Narrative und deren Genese in der öffentlichen Debatte. So entsteht das Bild eines Netzwerks, in dem von Russland gesäte Interpretationen, Sichtweisen und Falschinformationen verbreitet werden.

STANDARD: Ihr Blog trägt den Titel "Vatniksoup". Eine Suppe hat Zutaten. Aus welchen besteht diese Suppe?

Kallioniemi: Ich glaube, es gibt drei Hauptzutaten: Gier, Heuchelei und Unehrlichkeit. Wenn Sie sich die Leute ansehen, die Propaganda verbreiten, weisen viele von ihnen diese Merkmale oder zumindest eines dieser Merkmale auf. Menschen werden durch unterschiedliche Dinge motiviert, aber am Ende läuft es meistens auf ebendiese Zutaten hinaus.

STANDARD: Sind das bezahlte Demagogen, sind das Überzeugungstäter?

Kallioniemi: Ich glaube, man kann das CIA-Modell zur Rekrutierung von Agenten und Informanten anwenden: MICE – "money, ideology, compromat (kompromittierendes Material, Anm.), ego". Einigen wird Geld angeboten, anderen reicht eine Show auf Russia Today oder ein Blog. Es gibt freilich auch solche, die die Kontroverse suchen, die gegen das Establishment oder die Regierung sind. Sie haben anscheinend das Gefühl, keine Veränderung herbeiführen zu können. Sie beginnen dann, Propaganda oder Desinformation zu verbreiten. Diese Kampagnen zielen meist auf marginalisierte, einfach zu radikalisierende Gruppen ab.

STANDARD: Aber sehr viele dieser Akteure sind keinesfalls Underdogs. Da sind Prominente, da sind Ex-Politiker, Generäle oder Journalisten ...

Kallioniemi: Sehr viele sind aber marginalisiert – oder sie fühlen sich zumindest so. Etwa Colonel Douglas Macgregor (Trumps vom Senat wegen prorussischer Haltung abgelehnter Kandidat für den Botschafterposten in Berlin, Anm.): Der wurde von der US-Armee letztlich marginalisiert. So auch Scott Ritter, ein vormals angesehener Waffeninspektor (der später wegen Sexualdelikten verurteilt wurde und heute für Russia Today arbeitet, Anm.). Heute jubeln beide für Russland. Natürlich: Es gibt vor allem in Russland viele Menschen, die keinesfalls am Rand stehen – das sind Menschen, die dort an der Macht sind. Sie sind die Informationsquelle dieser Kampagnen.

STANDARD: Geht es also auch darum, Menschen mit Geltungsdrang eine neue Bühne zu verschaffen?

Kallioniemi: Ganz sicher. Ich bin kein Psychologe. Aber ich kann mir sehr gut vorstellen, dass es die Motivation einiger dieser Personen ist, den Respekt und den Ruhm wiederzuerlangen, die sie einmal hatten.

STANDARD: Kampagnen funktionieren auf vielen Ebenen, durch Narrative, bis in den universitären Bereich ...

Kallioniemi: Klar. Es gibt die akademischen Ansätze, in denen sich die Diskussion auf die Nato konzentriert. Oder darauf, dass die Nato mit diesem Krieg begonnen hat. Diesem folgen eher die "Realos". Dann gibt es den Friedensansatz. Das hat begonnen, als Putin Teile der Ukraine annektierte – Gebiete, von denen er sagte, sie seien russisch. Dadurch entstand so etwas wie eine Friedensbewegung.

Das ist ein sehr beliebtes Narrativ: Das Töten soll ein Ende haben, es wäre schön, Frieden zu sehen. Und dann gibt es eine ganze Reihe extrem vereinfachter Ansätze: Die Ukraine sei voller Nazis, die Geschichte vom Völkermord im Donbass. Sie versuchen es auf verschiedenen Ebenen. Auch bis hin zu klaren Verschwörungstheorien, etwa: In der Ukraine würden in Biolaboren Antirussen gezüchtet.

STANDARD: Im Grunde kreist die europäische Debatte um Themen, die Russland wie Stöckchen hinwirft: Nato, Atomkrieg, "Russen" in der Ukraine, die eigentlich russischsprachige Ukrainer wären ...

Kallioniemi: Wir befinden uns in einem asymmetrischen Informationskrieg. Wenn Sie an russische Medien denken, dann spielt Wahrheit dort keine Rolle. Das sind taktische Truppen: Die sagen die Unwahrheit, sie dient der eigenen Sache. Im Westen geht es darum, die Wahrheit herauszufinden, zu recherchieren. In Russland müssen sich Journalisten darum nicht kümmern. Und wir tragen die Last, herausfinden zu müssen, was wahr ist. Sie drängen uns also auf, diesen Anschuldigungen entgegenzuwirken.

STANDARD: Geht es letztlich darum, Entscheidungsprozesse zu torpedieren, zu verlangsamen? Wo stehen wir in diesem Informationskrieg?

Kallioniemi: Deutschland zum Beispiel hat sehr viel Zeit damit aufgebracht, hin- und herzupendeln. All die Waffenlieferungen haben viel zu lange gedauert. Und das hat viele Leben gekostet – auch russische. Wir verlieren diesen Informationskrieg nicht, aber wir gewinnen ihn auch nicht. Das größte Problem ist die Kriegsmüdigkeit. Es ist schwer, den Krieg in der Wahrnehmung zu halten. Sehr viele Menschen halten es nicht aus, einem negativen Thema so viel Zeit zu widmen.

STANDARD: Diese Kampagnen waren anfangs sehr zentralisiert, etwa in Sankt Petersburg. Ist das noch so, oder ist das bereits ein Selbstläufer?

Kallioniemi: Das denke ich nicht. Aber freilich: Es gibt Menschen, die Russland in diesem Krieg überzeugt unterstützen. Aber was diese Kampagnen angeht, hat sich das weg von einer zentralisierten Aktion hin zu einem mehr ausgelagerten, gewinnorientierten Business entwickelt. Es gibt heute Trollfarmen auf den Philippinen, in China, in afrikanischen Staaten, in Nordmazedonien. Wir müssen besser verstehen lernen, wie sich dieses Feld in den vergangenen Jahren entwickelt hat. Ein Beispiel: Wie kommt es, dass Medien wie Russia Today und Sputnik in manchen afrikanischen Staaten groß geworden sind? Wir sind etwas zurückgefallen in diesem Informationskrieg, was das angeht. Und letztlich ist es so: Wer es schafft, seine Narrative zu verbreiten, hat auch die Unterstützung auf seiner Seite.

STANDARD: Wo verläuft die Linie zwischen Propaganda und Überzeugung?

Kallioniemi: Es gibt eine definitive Grenze: Bei denen, die bezahlt werden, ist es klar – aber schwer zu sagen. Letztlich diskutieren wir das, weil wir in Europa lange keinen so großen Krieg hatten. Seien wir ehrlich: Der Jemen oder Syrien haben uns nicht direkt derart emotional betroffen. Jetzt aber ist dieser Krieg sehr nah. Für einen Menschen in Brasilien ist aber auch dieser Krieg einer, der sehr weit weg ist. Wenn man sich dann gezielt Individuen ansieht, ist es sehr schwer, Anschuldigungen zu erheben – auch wenn das genau das ist, was ich mache. Freilich: Man kann gegen eine Sache argumentieren, man kann versuchen, "die andere Seite" zu verstehen. Ich glaube nicht an Zensur, ich bin offen für Debatten. Und eines Tages wird dieser Krieg vorbei sein, wir werden einen Dialog haben müssen. Aber jetzt ebenso wie danach muss eines klar sein: Russland hat diese Invasion in der Ukraine begonnen und sehr lange geplant.

STANDARD: Einer, der diese Debatte nicht aufgenommen hat, ist der österreichische Journalist Christian Wehrschütz, dem Sie auch einen Eintrag auf Ihrem Blog gewidmet haben.

Kallioniemi: Seine Anwälte haben mir in zwei Mails nahegelegt, Passagen in meinem Beitrag zu ändern. Das werde ich nicht tun. Wenn er sich dazu entscheidet, mich zu klagen, dann wird das eben so sein.

STANDARD: Hat Österreich im Gesamtkontext eine Sonderrolle?

Kallioniemi: Spionage ist nach österreichischem Recht nur ein Verbrechen, wenn sie sich gegen Österreich richtet. Österreich ist definitiv eine Brutstätte der Spionage in Europa.

Betrachtet man die Strukturen, findet man ganz allgemein einen ganzen Haufen an Akteuren mit engem Russland-Bezug. Karin Kneissl ist nur eines von vielen Beispielen. Es gibt auch viele Firmen mit Bezug zu Russland. Noch etwas zu Wehrschütz: Ich habe ganz einfach Dinge wiedergegeben, die er selbst gesagt hat. Er hat sich über viele Jahre an der Verbreitung russischer Propaganda beteiligt. Und wenn das jemand anspricht, dann klagt er – kein gutes Bild für einen Journalisten.

STANDARD: Passt das nicht auch zu einem Teil zum nie aufgearbeiteten Hang zu Verschwörungstheorien und Paranoia aus stalinistischer Zeit?

Kallioniemi: Die Stalin-Zeit war sicher ein Zeitalter der Paranoia. Man konnte ganz einfach sein Leben leben und dafür erschossen werden, im Gulag enden oder in anderer Weise zum Ziel des Staates werden. Diese Paranoia hat die russische Gesellschaft nie verlassen. Es gab auch nie einen Bruch mit der Geschichte oder eine Aufarbeitung. Russland hat den Krieg gewonnen – es war nie notwendig, die eigene Geschichte kritisch zu hinterfragen. (Stefan Schocher, 29.10.2023)