Kerzen und Blumen für die Opfer am Ort des Anschlags.
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Neun Minuten versetzten Wien vor rund drei Jahren in Schrecken. Neun Minuten, in denen ein islamistischer Attentäter am 2. November 2020 durch den ersten Bezirk lief, um sich schoss und dabei vier Menschen tötete und weitere 23 Personen verletzte. Neun Minuten, die Wien – zumindest für kurze Zeit – zusammenrücken ließen.

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DER STANDARD

Welcher kollektive Erinnerungsraum sich schon kurz nach dem Terroranschlag bildete und wie sich nationale und internationale Reaktionen auf Twitter – heute X – unterschieden, haben nun Forschende der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) untersucht.

Auf ihrer Suche konzentrierten sich die Computerwissenschafterin Marcella Tambuscio und der Historiker Martin Tschiggerl auf Narrative auf Twitter. Gemeinsam analysierten sie dafür mehr als 248.000 Tweets, an denen mehr als 133.000 Nutzerinnen und Nutzer beteiligt waren – nicht nur Kurznachrichten, die am 2. November selbst sowie an den Tagen danach abgesetzt wurden, sondern auch jene aus der Zeit, als sich der Anschlag 2021 zum ersten Mal jährte. Ihre Ergebnisse wurden soeben im Journal Social Media & Society veröffentlicht.

Robin Kohrs

Wie reagierten also Wien, Österreich und die Welt auf den Terroranschlag? Was bleibt von den neun Minuten, die Wien nicht mehr vergessen wird, im kollektiven Gedächtnis der Stadt?

#SchleichDiDuOaschloch Innerhalb von nur 48 Stunden etablierte sich der Hashtag als "kollektives Narrativ der Erinnerung", lautet die Conclusio der Forschenden. Denn auch außerhalb von Twitter-Communitys erregte dieser Hashtag die größte Aufmerksamkeit – nicht nur in Österreich. "Der Spruch kam aus den sozialen Medien, wurde aber auch in den klassischen Medien übernommen", sagt Tschiggerl im STANDARD-Gespräch.

Symbol des Zusammenhalts

Die Story: "Schleich di, du Oaschloch" soll ein Bewohner der Innenstadt dem Attentäter aus dem Fenster nachgerufen haben. Allerdings: Der Satz, der etwa auch das Cover der deutschen Taz zierte, konnte nie verifiziert werden. Bei dem Spruch handle es sich um einen "erinnerungspolitischen Mythos" zum Terroranschlag. Weil das Narrativ "so gut" zu der Stadt passe: "Es hat etwas Stoisches, die Ruhe, dass ein Wiener selbst im Augenblick von Terror, Tod und Zerstörung jemandem hinterherschimpft." Der Satz wurde zum Symbol des Zusammenhalts der Stadt. "Es ging darum, sich nicht unterkriegen zu lassen und die Idee eines gemeinsamen Wiens zu stärken", sagt der Wissenschafter.

Kaum zu finden in Österreich: islamophobe oder fremdenfeindliche Inhalte. "Diese Inhalte sind nur in absoluten Einzelfällen zu beobachten", erklärt Historiker Tschiggerl. Das sei vor allem auch auf die eher liberale Twitter-Bubble zurückzuführen. "Hierzulande handelte es sich vor allem um positive Narrative von Gemeinschaft und des Gedenkens an die Opfer."

#ViennaAttack, #PrayForVienna und #0211W Insgesamt wurden in den sozialen Medien zwar Hashtags wie diese öfter verwendet, das liege aber auch an den vielen englischsprachigen Tweets. Diese seien allerdings austauschbar und im Grunde genommen immer dieselben, sagt Tschiggerl. Viele der internationalen Reaktionen verwendeten das Framing vergangener Anschläge. "Wenn wir uns die geografischen Koordinaten ansehen, erkennen wir, dass sie hauptsächlich aus Städten kommen, die ähnliche Anschläge erlebt haben – also Paris, Nizza oder Barcelona", erklärte Computerwissenschafterin Tambuscio in einer Aussendung. Reaktionen seien nicht nur aus Europa gekommen, sondern etwa auch aus Indien: "Es gab sehr starke Reaktionen in Indien, in denen die Erinnerung an den Anschlag in Mumbai 2008 reaktualisiert wurde."

Neue X-Beschränkungen

So oft diese Hashtags allgemein verwendet wurden, so schnell waren sie aber auch wieder weg. "Diese Hashtags wurden innerhalb von etwa 48 Stunden verwendet, dann ist international das Nächste passiert", sagt Tschiggerl. Anders sei das bei #SchleichDiDuOaschloch: "Es wurde zu einer Art geflügeltem Wort, das immer wieder genutzt wurde." So erlebte der Hashtag etwa bei der Abwahl des einstigen US-amerikanischen Präsidenten Donald Trump oder beim Rücktritt von Ex-Kanzler Sebastian Kurz ein Revival.

Analysen wie diese, das betonen die ÖAW-Forschenden jedoch, seien künftig nicht mehr möglich. Schuld sind die neuen Beschränkungen von X. Seit der Übernahme von Elon Musk ist es für Wissenschafterinnen nicht mehr möglich, Tweets in großen Mengen herunterzuladen. (Text: Oona Kroisleitner, Grafik: Robin Kohrs, 30.10.2023)