Music Angela Schanelec
Was ist da los? Leerstellen zwischen den Szenen statt der problemlosen Verknüpfung von Handlungspunkten prägen die Filme der 61-jährigen Angela Schanelec.
Viennale

In einem griechischen Gefängnis hängt ein Blatt Papier an der Wand. Von Hand sind darauf ein paar Namen und Titel geschrieben: Monteverdi Lamento d’Arianna, Bach Erbarme dich, Pergolesi Stabat Mater. Ein kleiner Kanon meisterlicher europäischer Musik, auf den zu achten ist in einem Film mit diesem Titel: Music von Angela Schanelec. Musik ist die Sprache, die keine Worte braucht. Griechisch ist eine Stunde lang die Sprache dieses Films. Dreißig Minuten lang fällt überhaupt kaum ein Wort, und wenn, dann ist es ein Name, zu dem noch ein Bezug fehlt.

Den Zettel mit der Liste hat eine Frau geschrieben, die Iro heißt und als Wärterin in dem Gefängnis arbeitet. Auf einen der Inhaftierten hat sie einmal einen langen, forschenden Blick gerichtet – das reicht bei Angela Schanelec für eine Geschichte. Iro ist nun mit Jon zusammen, einem jungen Mann, der eine Strafe verbüßt. Wofür genau, das muss man sich dazudenken, oder auch nicht. Im Gedächtnis wird man behalten, dass man einen anderen jungen Mann auf einem Stein liegen gesehen hat, sein Kopf in einer Blutlache. Ein Mord? Ein Totschlag? Ein Unfall? Das sind Begriffe. Bei Angela Schanelec verbleiben sie am Rand des Horizonts.

MUSIC - ein Film von Angela Schanelec (offizieller Trailer)
GRANDFILM

Music ist eine Erzählung, die von dem Mythos von Ödipus ausgeht. Was war das noch einmal mit den wunden Füßen von Ödipus? Er hat seinen Vater getötet, und seine Mutter geheiratet, und er hat sich schließlich, nachdem alles ans Licht gekommen war, die Augen ausgestochen. Jon richtet seinen Blick einmal auf den Zettel mit den Musiktiteln. Er kann ihn nicht lesen, er sieht nur ein paar verschwommene Zeilen. Er braucht bald eine Brille, sein Augenlicht schwindet.

Kino der Körperlichkeit

Wenn man nach Filmkunst aus Deutschland fragt, dann fällt häufig der Name Schanelecs. Sie wurde mit ihrer eigenwilligen Ästhetik international bekannt, man kann ihr Werk als eine Fortführung und Radikalisierung klassischer Positionen des modernen Autorenkinos sehen. Gegen ein Kino der psychologischen Identifikation setzt sie auf ein Kino der konkreten Körperlichkeit, auf Epiphanien des Leiblichen. Gegen ein Kino der problemlosen Verknüpfung von Handlungspunkten setzt sie auf Leerstellen zwischen den Szenen, und damit auf ein Publikum, in dessen Wahrnehmung ihre Filme sich erst vollenden. Die Geschichte von Ödipus ist auch für Schanelecs Ästhetik ein Umschlagpunkt: eine archaische Erzählung, die in der Moderne zu einer Formel für familiäre Logiken des Begehrens wurde. Aus einer tragischen Verstrickung ist ein Komplex geworden.

Nichts könnte Schanelec ferner sein. Music ist denn auch alles andere als tragisch. Zwar vollzieht sich im Kern etwas, was dem altgriechischen Ausgangspunkt in etwa entspricht. Aber Jon (Aliocha Schneider) bleibt von all dem merkwürdig unberührt. Er bekommt von seiner Geliebten, seiner Mutter, seiner Frau die Musik gleichsam als Geschenk, zuerst in Form eines alten Kassettenrekorders, und gewinnt eine Stimme, die er aber bezeichnenderweise nicht für gesprochene Sprache, sondern Gesang nutzt. Musik führt aus der Tragödie hinaus.

Wunder des Erscheinenden

Damit ist Angela Schanelec auch an einem exponierten Punkt ihres eigenen Projekts mit dem Kino angelangt. Denn es gibt kaum vergleichbare Filmemacher, die so konsequent einerseits die Wunder des Erscheinenden, das Phänomenale an der Welt zum Leuchten bringen und dabei andererseits so stark alle erzählerischen Einhegungen dieser Erfahrungen zu vermeiden versuchen. In Music schlägt sie sich auf die Seite einer Kunst der reinen Bezeugung. Als könnte das Kino selbst Musik werden und nur noch das erzählen, wofür man keine Wörter mehr suchen sollte. (Bert Rebhandl, 31.10.2023)