Frau sitzt vor einem üppig mit Fast Food gedeckten Tisch und stützt beschämt den Kopf in die Hände
Erst Pasta, dann die Familienpackung Nuggets, später Schokolade: Bei Binge Eating Disorder essen Betroffene immer wieder unkontrolliert große Mengen, danach schämen sie sich meist.
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Eigentlich will Elif (33)* gesund zu Abend essen. Sie hat alles eingekauft, was sie für den mexikanischen Eintopf braucht. Um die spezielle Bohnenpaste und das Fladenbrot zu besorgen, hat sie auf dem Nachhauseweg von der Arbeit extra einen ordentlichen Umweg gemacht. Sie wohnt allein, kocht nur für sich und hat an dem Tag nicht besonders viel Hunger. Den Rest wird sie einfrieren, so der Plan.

Ein paar Stunden später sitzt sie auf dem Sofa, vor ihr mehrere Take-away-Kartons vom China-Imbiss um die Ecke und leere Verpackungen von diversen Snacks. "Ich trau es mich fast nicht sagen", sagt sie, wenn man sie fragt, was sie alles gegessen hat. Die Scham überkommt sie auch heute noch, gut drei Jahre nach ihrem ersten Fressanfall.

Wie in Trance

Ein paar Monate später und nach einigen weiteren solchen Abenden googelt Elif erstmals. Sie tippt "Essanfall obwohl kein Hunger" in die Suchleiste und stößt auf einen Begriff: Binge Eating Disorder (aus dem Englischen: to binge = verschlingen). Hat sie wirklich eine Essstörung?

"Ich dachte, das kann doch nicht sein. Ich doch nicht!", erinnert sich Elif. So ein bisschen Frustessen hin und wieder sei doch sicherlich normal. Aber Binge Eating Disorder, kurz BED, ist deutlich mehr als das, stellt Barbara Hilscher klar. Sie ist Allgemeinmedizinerin, Ernährungswissenschafterin und betreut Menschen mit Essstörungen. "Betroffene leiden wirklich an massiven, hochkalorischen Essanfällen. Da geht es nicht darum, ob man sich beim All-you-can-eat-Buffet überisst oder auf der Couch nur eine Rippe Schoko essen will und dann doch die ganze Packung verschlingt."

Bei so einer Essattacke nehmen Betroffene schon einmal 5000 Kilokalorien zu sich. "Sie verlieren dabei komplett die Kontrolle und essen meist auch schneller als üblich. Sie stopfen alles in sich hinein. Meine Patientinnen und Patienten sagen oft, sie würden sich fühlen wie in Trance", berichtet Hilscher.

Kommt so ein Anfall über drei Monate hinweg mindestens einmal pro Woche vor, sollten die Alarmglocken laut schrillen. Denn das sei eines von mehreren Kriterien zur Diagnose dieser komplexen psychischen Erkrankung. BED ist dabei erst seit kurzem eine eigene Diagnose. Damals, als Elif googelte, war es im Klassifikationssystem ICD noch gar nicht als eigenständige Erkrankung erfasst. Erst im ICD-11, der elften Version, die Anfang 2022 in Kraft getreten ist, taucht BED als eigene Diagnose auf. Das bedeutet aber auch: "Es gibt noch kaum verlässliche Daten dazu. Vor allem epidemiologische Daten und Langzeitstudien fehlen", sagt Hilscher.

Was man weiß: In westlichen industrialisierten Ländern ist es die häufigste Essstörung. Genaue Zahlen gibt es für Österreich nicht, analog zu ähnlichen Ländern gehen Fachleute aber davon aus, dass mindestens zwei Prozent der Bevölkerung davon betroffen sind, die meisten sind Frauen. Zum Vergleich: An Magersucht leiden etwa 0,5 bis ein Prozent. Während Anorexie oft schon früh im Kinder- und Jugendalter beginnt, tritt BED eher später ab 25 Jahren vermehrt auf. Und: Es ist meist für Außenstehende völlig unsichtbar.

Lieber Ekel statt Wut

Der Leidensdruck von Betroffenen ist groß: "Die Lebensqualität leidet sehr stark. Man schämt sich für die Essanfälle, macht es meistens heimlich und muss ständig an Essen denken", sagt Hilscher.

Elif kennt das gut. "Wenn ich unterwegs war, hab ich mich oft schon richtig auf zu Hause gefreut, wo ich endlich in Ruhe so richtig viel essen konnte", erinnert sie sich. Aber danach fühlte sie sich immer schlecht: "Mir war übel, ich habe mich geschämt und mich vor mir selbst geekelt. Und dann kam der Selbsthass dazu. Wenn es dir danach so scheiße geht, warum machst du es dann überhaupt? Wie dumm kann man denn sein?", fragte sie sich oft.

Die Antwort ist komplex. Aber vereinfacht gesagt ist Binge-Eating eine Strategie zur Bewältigung von belastenden Lebenssituationen. Betroffene regulieren damit negative Emotionen, erklärt Hilscher: "Der Essanfall ersetzt Emotionen wie Wut, Trauer oder Einsamkeit mit anderen Gefühlen, die man kurzfristig besser ertragen kann. Ekel zum Beispiel."

Es gibt aber auch biologische Faktoren. Bei Betroffenen ist die Gehirnstruktur verändert. "Im MRT sieht man Veränderungen von Neurotransmittern, vor allem bei Dopamin- und Opioid-Rezeptoren", berichtet Hilscher. Das führt in weiterer Folge zu einer Veränderung im Hunger- bzw. Sättigungsmechanismus. Betroffene spüren nicht mehr, wenn sie hungrig sind, bzw. schätzen den Hunger viel größer ein, als er tatsächlich ist. Sie essen deutlich zu viel und werden danach von Schuld- und Schamgefühlen geplagt. Das ist ähnlich wie bei Bulimie, der Ess-Brech-Sucht. Nur werden beim BED danach keine kompensatorischen Maßnahmen gesetzt – so nennen Fachleute das Erbrechen oder die Einnahme von Abführmitteln.

Das führt dazu, dass viele – Schätzungen zufolge etwa 40 Prozent – der BED-Betroffenen übergewichtig oder adipös sind. "Sie haben dadurch auch alle körperlichen Folgen von Adipositas wie hohe Blutfette, Diabetes oder Gelenksschmerzen", berichtet Hilscher.

Aber die gute Nachricht ist: BED ist gut behandelbar, besser als Magersucht oder Bulimie. Bis zu zwei Drittel der Betroffenen können mit entsprechender Therapie geheilt werden. "Das Um und Auf ist dabei die Psychotherapie", betont die Expertin. Denn etwa 90 Prozent der Binge-Eating-Betroffenen haben zusätzlich eine psychische Erkrankung wie Depression, eine Posttraumatische Belastungsstörung, ADHS oder eine Angsterkrankung. "Deshalb ist in der Behandlung die Herangehensweise über die Psyche auch so entscheidend. Adipöse Menschen sind nicht willensschwach oder selbst schuld, da steckt oft sehr viel mehr dahinter", weiß Hilscher.

Es gebe zwar auch Medikamente im Kampf gegen Binge Eating Disorder, aber ohne begleitende Therapie zeigen die wenig Wirkung. Man müsse das Problem möglichst interdisziplinär behandeln: mit Internistinnen, Diätologen, Psychotherapeutinnen und Psychiatern.

Elif ist gerade dabei, die ersten Schritte dahingehend zu setzen. Besorgte Freundinnen hatten sie immer wieder behutsam darauf angesprochen, ob sie nicht in Therapie gehen möchte. Sie wirke niedergeschlagen und in sich gekehrt, sagten sie – und sollten mit ihren Beobachtungen recht behalten. "Die Diagnose Depression war bei mir schnell klar. Und daran arbeite ich jetzt gemeinsam mit meiner Therapeutin. Das mit den Essanfällen wird sich dann schon lösen. Ich weiß jetzt zumindest, wo sie herkommen, und das hilft mir schon einmal", sagt sie. "Eins nach dem anderen." (Magdalena Pötsch, 30.10.2023)