Gesetze sind sperrig, aber das Schild ist eindeutig: Ein großer und ein kleiner Mensch spielen auf der Straße mit einem Ball, ein Auto ist nur im Hintergrund zu sehen. Die weißen Piktogramme auf blauem Grund markieren eine Wohnstraße. Einen verkehrsberuhigten Ort, wo Menschen Vorrang vor Autos haben. Ein kleiner Teil der Wiener Goldschlagstraße im 15. Bezirk ist solcherart markiert. Doch abgesehen vom Schild lädt hier nichts zum Spielen ein.

Die Goldschlagstraße ist eine Straße für Autos, das wird baulich klar deutlich gemacht. Links und rechts der Fahrbahn parken schräg Wagen. Der Gehsteig ist erhöht, der Niveauunterschied markiert die Gefahrenzone. Die Goldschlagstraße schaut genauso aus wie viele der 183 Wohnstraßen in Wien: unwohnlich.

Zwei Männer werfen einen Ball hin und her.
Ausgerüstet mit einem Ball und Straßenkreide wagte DER STANDARD den spielerischen Selbstversuch in der Wohnstraße.
Heribert Corn

Niemand kommt auf die Idee, hier zu spielen. Grund genug für den STANDARD, es zu probieren.

Ihr seid hier nicht willkommen

Mit Straßenkreide und einem Ball ausgerüstet stellen wir uns mitten auf die Goldschlagstraße, hüpfen auf die bunten Quadrate, mit denen wir den Asphalt verschönert haben, werfen den Ball hin und her. Es fühlt sich eigenartig an. Was wir tun, ist erlaubt. Und doch scheint die Straße uns zu vermitteln: Euer Ball und ihr, ihr seid hier nicht willkommen. Passanten bleiben stehen und beobachten die beiden Erwachsenen, die spielen – und das mitten auf der Fahrbahn.

Zwei Männer werfen auf der Straße einen Ball hin und her, links und rechts sind Autos.
Das Spielen auf der Straße fühlt sich falsch an.
Heribert Corn

"Seid ihr nicht ganz dicht?"

Keine Viertelstunde dauert es, bis wir angehupt werden: "Seid ihr nicht ganz dicht im Kopf?", will der Fahrer des VW wissen. Den Hinweis, dass wir in dieser Inkognito-Wohnstraße spielen dürfen, er mit seinem Auto aber nicht durchfahren darf, tut er mit einem "Ja, ja" ab. Er fährt nach der kurzen Diskussion an uns vorbei und um die Kurve davon. Die meisten der motorisierten Verkehrsteilnehmer fahren aber kommentarlos an uns vorbei, nur manche schütteln den Kopf.

Eine Ausnahme ist die Dame, die das Fenster herunterlässt und fassungslos fragt: "Wie kommts ihr auf die Idee, da Ball zu spielen?!" Die Information, dass sie gerade durch eine Wohnstraße fährt, schockiert die Frau sichtlich. Sie hebt die Hände, als würde sie sich ergeben, entschuldigt sich mehrmals und fährt davon.

Ein Mann lehnt sich zum fahrerseitigen Fenster eines silbernen Renaults.
Wer auf Wohnstraßen spielt, muss manchmal Informationsarbeit leisten.
Heribert Corn

Die Straßenverkehrsordnung stellt strenge Regeln für Wohnstraßen auf: Auto fahren ist dort grundsätzlich verboten, nur für das Zu- und Abfahren gibt es eine Ausnahme. Selbst dann müssten Autos aber im Schritttempo fahren. Nach eineinhalb Stunden auf der Goldschlagstraße lässt sich gesichert sagen: Das ist totes Recht – zumindest an dieser Stelle. Autos fahren hier durch, und das zu schnell. Obwohl der Bereich bereits vor 26 Jahren zur Wohnstraße erklärt wurde.

Für die politisch Verantwortlichen sind solche Wohnstraßen eine billige Möglichkeit, um sich "Verkehrsberuhigung" auf die Fahnen zu heften: Die Schilder stehen ja da, theoretisch ist der Autoverkehr eingeschränkt. Weil sich aber ohnehin kaum jemand an die Regeln hält, vergrämt man mit der Maßnahme auch keine Autofans.

Ein kleiner Schanigarten für alle

Einer der Leute, die das Straßenspiel des STANDARD beobachten, ist Matthias Frager. Der Fotograf und Webdesigner hat in einem der Gassenlokale hier sein Büro. "Seid ihr wegen der Wohnstraße da?", will er wissen. Weil: "Wir versuchen da ja schon lange, was zu machen." Gemeinsam mit seinen Bürokollegen und der Keramikkünstlerin nebenan möchte er die Wohnstraße ein bisschen wohnstraßiger gestalten. Denn so, wie sie jetzt ausschaut, diene sie nur als Parkplatz und als Schleichweg.

Ein Mann mit Bart und Brille
Matthias Frager würde die Wohnstraße gerne etwas wohnlicher gestalten.
Heribert Corn

Im Sommer stellen die Freiberufler zum Beispiel eine Heurigenbank auf einen der Parkplätze, das werde auch gut angenommen: "Einmal hat ein Typ seinen Porsche daneben geparkt und zu uns gesagt: 'Super, dass ihr etwas gegen den Verkehr macht!'" Um die Straße vor ihren Büros einladender zu gestalten, haben die Unternehmer und die Unternehmerin auch eine "Grätzeloase" beantragt, als eine begrünte Sitzgelegenheit für alle – dort, wo jetzt ein oder zwei Autos parken. Die Genehmigung durch die Stadt steht noch aus.

Politik verweist auf Gelungenes

Bezirksvorsteher Dietmar Baurecht (SPÖ) scheint über das Herauspicken dieser einen Straße durch den STANDARD nicht erfreut, jedenfalls führt er in seiner Antwortmail eine ganze Reihe verkehrsberuhigender Maßnahmen an anderen Orten an: Auf dem Neusserplatz werde eine ganze Fahrspur entfernt, die Einbahn in der Markgraf-Rüdiger-Straße führt künftig in die andere Richtung, um Abkürzerfahrten zu verhindern. Und die neu gestaltete Wohnstraße in der Pelzgasse zählt mit dem hellen Belag, neuen Bäumen und Sitzgelegenheiten überhaupt zu Wiens Vorzeige-Wohnstraßen.

Der Kontrast dieser modernen Wohnstraße zur autozentrierten Goldschlagstraße ist groß. Sie werde aber "durch dort lebende Bewohnerinnen belebt". Baurecht sagt, er unterstütze gerne "Initiativen in Wohnstraßen".

Alibi-Wohnstraßen "nicht mehr üblich"

Auch eine Sprecherin der städtischen Verkehrsabteilung (MA 46) betont, dass Alibi-Wohnstraßen wie jene in der Goldschlagstraße nicht mehr der Standard seien: Schlicht ein Schild aufzustellen, ohne umzubauen, sei heute "nicht mehr üblich". Das Parade-Gegenbeispiel ist die Bernardgasse im siebenten Bezirk, die gerade in eine beruhigte Wohnstraße mit Sitzgelegenheiten und neuen Bäumen umgebaut wird.

Ein Mann mit Stoppelbart und Haube
Bünyamin kennt das Wohnstraßenproblem – aus Autofahrersicht.
Heribert Corn

Ein Nachsatz von der Behörde: Selbst erhöhte Niveaus, Straßenmöbel und Bäume sind keine Garantie dafür, dass sich Autofahrer an die Regeln halten. Letztlich ist für die Kontrolle der Regeln die Polizei zuständig. Das weiß auch Bünyamin, der uns beim Spielen in der Goldschlagstraße zuschaut: "Wegen der Wohnstraße seid ihr hier, oder? Da oben" – er deutet Richtung Norden – "bin ich mal durchgefahren. Das hat mich 58 Euro gekostet." Ganz tot ist das Recht in Wiener Wohnstraßen dann also doch nicht. (Sebastian Fellner, 6.11.2023)