Wien – Kriegsbilder fluten derzeit Social Media und finden ihren Niederschlag auch in den klassischen Medien. Der österreichische Presserat plädiert für Zurückhaltung, wenn etwa Bild- und Videomaterial vom Großangriff der Hamas gegen Israel in sozialen Medien zirkuliert. In den meisten Fällen geht es um Fragen des Persönlichkeitsschutzes, aber auch um den Schutz der Rezipientinnen und Rezipienten, die mit Schockbildern konfrontiert werden. Bildveröffentlichungen von Leichen oder brutaler Gewalt greifen in die Menschenwürde der Abgebildeten ein. Der deutsche Medienwissenschafter und Professor für Medienethik an der Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg, Christian Schicha, ordnet ein, welche Kriegsfotos veröffentlicht werden sollen und welche nicht.

Medienwissenschafter Christian Schicha.
Medienwissenschafter Christian Schicha.
Georg Pöhlein

STANDARD: Ob Ukrainekrieg oder Nahostkonflikt: Die grauenvollen Bilder nehmen kein Ende. Welche Verantwortung haben die Medien bei der Selektion des Materials?

Schicha: Medien sollten sich in Wort und Bild grundsätzlich Gedanken über die Folgen der Berichterstattung machen. Das erste Gebot ist die Beachtung des Persönlichkeitsschutzes – und zwar auf mehreren Ebenen. Wenn es um Kriege, Katastrophen oder Terroranschläge mit Opfern geht, ist es aus meiner Sicht zentral, dass die Opferbilder nicht gezeigt werden. Unter der Voraussetzung, dass die Angehörigen nicht sagen: Wir möchten, dass diese Bilder in Gedenken zu sehen sind. Es ist davon auszugehen, dass Opfer nicht wollen, dass sie gezeigt werden. Hier ist eine besondere Zurückhaltung erforderlich. Was aber nicht bedeutet, dass nicht berichtet werden darf.

Das Foto entstand nach dem Massaker der Hamas im Kibbuz Be'eri nahe dem Gazastreifen
Das Grauen des Krieges könne man auch ohne explizite Opferbilder zeigen, sagt der deutsche Medienethiker Christian Schicha. Das Foto entstand nach dem Massaker der Hamas im Kibbuz Be'eri nahe dem Gazastreifen.
AP/Ariel Schalit

STANDARD: Wie sollten Medien berichten?

Schicha: Medien können berichten, ohne Namen zu nennen, oder sie zeigen Bilder, die Opfer nicht identifizierbar machen. Gesichter können etwa verpixelt werden, oder man zeigt Rückenansichten. Es gibt zahlreiche Möglichkeiten, das Grauen zu dokumentieren. Das ist auch die Aufgabe des Journalismus. Ich habe gerade eine Ausgabe des Magazins "Stern" vom 19. Oktober vor mir liegen. Mit dem Titel: "Krieg ohne Grenzen". Man sieht ein kleines Kind, das blutverschmiert und wohl auch traumatisiert ist, sowie das Bild einer Frau, die ihren Kopf an den Oberkörper eines Mannes legt, der eine jüdische Kippa trägt. Sie weint, woraus man schließen kann, dass sie Angehörige unter den Opfern hat. Ich finde es nicht in Ordnung, solche Bilder auf dem Cover zu drucken, weil das für mich purer Voyeurismus ist.

STANDARD: Es dient der Dokumentation des Grauens, überschreitet aber aus Ihrer Sicht die Grenze und zielt auf Voyeurismus ab?

Schicha: Natürlich kann man Opfer nicht identifizierbar zeigen. Es gibt so viele Möglichkeiten, die Kriegsfolgen vor Augen zu führen, allein wenn man die Zerstörung von Gebäuden dokumentiert. Da ist es nicht erforderlich, direkt aufs Gesicht zu halten.

STANDARD: Und der Opferschutz erlischt ja auch nicht mit dem Tod.

Schicha: Ja, post mortem gilt ja auch, dass es eine Menschenwürde gibt. Es ist eine Horrorvorstellung, wenn Angehörige über die Medien erfahren, dass ihre Liebsten ums Leben gekommen sind. Schon aus diesem Grunde sollte man auf solche Bilder verzichten.

STANDARD: Welches Zeugnis geben Sie den Medien im Umgang mit der Veröffentlichung von Kriegsfotos?

Schicha: In der Regel sind Qualitätsmedien reflektierter und zurückhaltender. Etwa die "Süddeutsche Zeitung" oder "Die Zeit" sind deutlich sensibler als klassische Boulevardmedien wie die "Bild"-Zeitung, wo man das ständig und täglich beobachten kann. Das Grauen wird dezidiert gezeigt. Die "Bild"-Zeitung oder auch "Die Welt" verteidigen ihre Praktiken und meinen, dass sie das Grauen zeigen müssen – in der Hoffnung, dass diese Bilder zu einem schnelleren Kriegsende führen. Das halte ich für relativ naiv.

STANDARD: Überschätzen Medien ihre Wirkmacht?

Schicha: Ja, es werden gerne die Bilder aus dem Vietnamkrieg als Beispiel genannt, wo eben Kim Phúc im Jahr 1972 als nacktes, zehnjähriges Mädchen, von diesem Napalm-Angriff getroffen, zu einer Ikone geworden ist und sich bis heute der Mythos hält, dass der Krieg deswegen früher beendet wurde. Das Problem ist zu komplex, und die Vorstellung, dass ein Opferbild dazu führt, dass es schnell Frieden gibt, ist eher ein frommer Wunsch.

STANDARD: Dieses heute ikonische Foto hat nicht dazu geführt, dass der Vietnamkrieg früher beendet wurde?

Schicha: Ich halte diese monokausalen Schlüsse für nicht zielführend, der Krieg hat lange genug gedauert. Bis heute wird auch immer wieder das Bild des 2015 im Zuge der Flüchtlingskrise verstorbenen Alan Kurdi erwähnt. Jener Junge, der tot am Strand von Bodrum angeschwemmt wurde. Sein Gesicht wurde zumeist nicht gezeigt, aber trotzdem waren viele durch diesen lebelosen Kinderkörper erschüttert. Es gab entsprechend heftige Reaktionen, aber das Problem ist trotz dieses Bildes bis heute nicht gelöst. Ich halte die Vorstellung für fragwürdig, dass Bilder, auch wenn sie einen ikonischen Charakter haben, irgendetwas politisch zum Positiven verändern können.

STANDARD: Im Falle Alan Kurdis wollten ja sein Vater, dass das Foto veröffentlicht wird, um das Leid zu zeigen. Da ist die Dimension eine andere?

Schicha: Ja, so hat beispielsweise auch die "Bild"-Zeitung mit dem Vater gesprochen, und er hat gesagt: Zeigt dieses Bild, um das Grauen zu dokumentieren. Ein weiteres prominentes Beispiel ist die Werbung des Bekleidungsherstellers Benetton, der eine ganze Reihe von provokativen Bildern gebracht hat. Darunter war ein Opfer aus dem damaligen Jugoslawienkrieg. Das blutverschmierte T-Shirt wurde im Rahmen einer Benetton-Werbung gezeigt, wo man auch noch das Einschussloch gesehen hat. Das Bild zu zeigen war der Wunsch des Vaters, damit das Grauen öffentlich wird. In solchen Spezialfällen kann das in Ordnung sein, wenn die Angehörigen einverstanden sind, aber ansonsten nicht.

STANDARD: Wo sollten Medien die Grenze ziehen? Fotos von Leichen zu zeigen ist grundsätzlich in Ordnung, wenn man das Gesicht nicht sieht und die Person nicht identifizierbar ist?

Schicha: Die Kategorie der Menschenwürde ist schwammig, aber das ist ein zentraler Aspekt. Die Identifizierbarkeit ist ein wichtiges Kriterium. Und ob die Angehörigen ihr Einverständnis gegeben haben.

STANDARD: Welche Bilder können Medien ihrem Publikum und den Leserinnen und Lesern zumuten?

Schicha: Ob Print, Online oder TV: Es gilt, mögliche Folgen zu beachten. Junge und sensible Menschen können traumatisiert werden. Sie sind nicht darauf vorbereitet, wenn etwa so ein "Stern"-Titel am Kiosk hängt. Ängste können entstehen, Assoziationsketten ausgelöst werden, die man sich nicht wünscht. Deshalb plädiere ich für Zurückhaltung, weil diese Konfrontation mit Schockbildern gravierende Folgen für die Rezipienten und Rezipientinnen haben kann. Speziell auch bei Kindern und Jugendlichen, die Schäden davontragen können.

STANDARD: Kann das mit Warnhinweisen abgefangen werden?

Schicha: Triggerwarnungen können natürlich hilfreich sein. Das ist aber zweischneidig. Wenn man vor etwas besonders Gruseligem warnt, erzeugt das Neugierde, und man schaut es sich erst recht an. Das Verbotene ist besonders reizvoll. Das zweite Problem ist die Umsetzung. Das führt zu skurrilen Situationen, dass uralte Satireformate wie die "Harald Schmidt Show" oder Otto Waalkes Komiken mit frauenfeindlichen Witzen jetzt mit Warnhinweisen versehen werden. Das ist fast schon Realsatire und ein harmloses Beispiel im Vergleich mit Horrorbildern.

STANDARD: Ein Foto, das für Diskussionen gesorgt hat, war jenes von drei ukrainischen Leichen, die auf einer Brücke gelegen sind. Die "New York Times" hatte das Bild im März 2022 auf ihrer Titelseite veröffentlicht, um ein mögliches Kriegsverbrechen Russlands zu dokumentieren.

Schicha: Die "New York Times" hatte nach dem Angriff von Butscha eine Familie, die von einer Bombe getroffen wurde, gezeigt. Sie sind ums Leben gekommen. Die Begründung der "New York Times" war, dass man das Grauen zeigen muss. In der Hoffnung, dass der Ukraine geholfen wird. Humanitär oder militärisch. Das kann ich nachvollziehen. Mein Kritikpunkt, und da war ich nicht der Einzige, ist die Identifizierbarkeit der Opfer. Es hat möglicherweise Freunde oder Kollegen dieser getöteten Familie gegeben, die so überhaupt erst von diesem Drama erfahren haben. Das ist nicht akzeptabel. Man hätte die Opfer von hinten zeigen können. Es wäre auch so vollkommen klar gewesen, dass die aufgrund des brutalen Angriffs ums Leben gekommen sind.

STANDARD: Und falls es nur diese Perspektive gibt, müsste man zumindest die Gesichter bis zur Unkenntlichkeit verpixeln?

Schicha: Ja, das ist ja nicht schwer und wird auch ständig gemacht. In Deutschland gibt es einschlägige Bestimmungen, dass man das bei Kindern von Prominenten macht, die nicht selbst mit ihnen in die Öffentlichkeit drängen. Kinder von Prominenten dürfen nicht gezeigt werden, und so findet man sogar in Boulevardmedien wie der "Bild"-Zeitung häufig Aufnahmen von verpixelten Kindergesichtern. Halten sich Medien nicht daran, machen sie sich strafbar und können juristisch verfolgt werden. Völlig zu Recht.

STANDARD: Das World Press Photo of the Year 2023 zeigt eine schwangere, blutverschmierte Frau in der ukrainischen Stadt Mariupol, die nach dem Bombardement einer Geburtsklinik durch die russische Armee verletzt auf einer Bahre getragen wird. Ist es aus medienethischer Sicht in Ordnung, dieses Foto zu zeigen?

Schicha: Nein, denn da treffen alle Kategorien zu, die nicht gehen. Die Frau war zu identifizieren, sie ist ein Opfer, sie leidet, und sie ist auch noch ums Leben gekommen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie ein großes Interesse gehabt hätte, diesen Leidensmoment in den Medien zu sehen. Hätte sie überlebt und hinterher gesagt: Ich möchte, dass die Medien dieses Bild zeigen, damit die Menschen begreifen, was ich erfahren habe, dann wäre das in Ordnung. Die Handlungsautonomie des Opfers muss das ermöglichen, dem Fotografen im Nachhinein die Zustimmung zur Veröffentlichung zu geben. Der entscheidende Punkt ist, dass Menschen in einer hilflosen Situation nicht einfach vorgeführt werden.

Das
Das World Press Photo of the Year 2023: Iryna Kalinina wird nach dem Angriff auf eine Geburtsklinik in Mariupol ins Spital gebracht, wo sie später verstorben ist.
AP Photo/Evgeniy Maloletka

STANDARD: Trotzdem wurde es von einer Jury zum Pressefoto des Jahres gewählt. Fehlt da die nötige Sensibilität?

Schicha: Wir sind alle nicht frei von Emotionen, und das ist gut so. Emotionen, Empathie und Voyeurismus: Das ist ein schmaler Grat. Ich bin hier auch als normaler Zuseher hin- und hergerissen. Ein Krieg, der ein Zivilisationsbruch ist, muss als solcher bezeichnet werden. Und Fotos haben eine Macht. Wir gehen rasant auf Weihnachten zu, und es werden wieder Bettelbriefe von zahlreichen Hilfsorganisationen bekommen. Sie zeigen hungernde Menschen oder Kriegsopfer in der Hoffnung, dass so mehr Spendenbereitschaft generiert wird. Das mögen gute Absicht sein, aber die Grenze der möglichen Identifikation sollte nicht überschritten werden, auch wenn ich nachvollziehen kann, dass man aufrütteln und helfen möchte. Das Ausleben von Voyeurismus ist kein konstruktives Mittel.

STANDARD: Israel hat nach dem Terror der Hamas viele Bilder und Videos von Opfern der Angriffe gezeigt. Das Grauen der Massaker müsse dokumentiert werden, hieß es.

Schicha: Der klassische Spruch, dass das erste Opfer des Krieges die Wahrheit ist, ist zynisch: Das erste Opfer sind die Menschen. Aber natürlich dienen Bilder immer Propagandazwecken. Beide Seiten, Israel und die Hamas, versuchen die Abscheulichkeit des Feindes zu dokumentieren. Es gibt Bilder von angeblichen Verbrechen, wo Menschen in Krankenhäusern durch Israel attackiert worden sind. Zum einen wissen wir überhaupt nicht, ob das faktische, authentische Bilder sind. Man kann sie manipulieren, stellen oder bearbeiten. Eine Überprüfung ist schwierig. Letztendlich versuchen beide Kriegsparteien, die Journalistinnen und Journalisten ein Stück weit zu instrumentalisieren und die Bevölkerung zu manipulieren.

STANDARD: Medien sollten transparent damit umgehen?

Schicha: Ich finde es immer gut, wenn Medien darauf hinweisen, dass es sich um Quellen handelt, deren Wahrheitsgehalt nicht verifiziert werden kann. Die "Frankfurter Rundschau" hat etwa bereits beim Irakkrieg jeden Tag geschrieben, dass die Informationen aufgrund der unklaren Quellenlage nicht unabhängig überprüft werden können. Das sollte man sehr häufig machen, um die Problematik der Berichterstattung unter Zensur- oder Propagandabedingungen darzulegen.

STANDARD: Das stärkt die Glaubwürdigkeit der Medien?

Schicha: Ja, das Verheerendste ist, wenn man hinterher nachweisen kann, dass etwa ein angebliches Israel-Bild zum Beispiel Szenen aus Syrien zeigt, die vielleicht schon Jahre zurückliegen. Das beschädigt auch die Reputation der Journalistinnen und Journalisten und der Publikationsorgane.

STANDARD: Auf Social Media zirkulieren Fotos en masse und in Echtzeit. Wie sehr haben solche Plattformen die Grenzen des Zeigbaren verschoben?

Schicha: Sehr, jeden Tag und ständig. Auf der einen Seite ist es positiv, dass jeder und jede sich beteiligen kann. Man spricht gerne von Prosumern, also Produzenten und Konsumenten. Wer in der Lage ist, eine Kamera zu bedienen, ist ein Akteur und nimmt an öffentlichen Debatten teil. Weniger positiv ist, dass häufig keine Reflexion stattfindet, was gezeigt werden sollte und was nicht. Da ist der Voyeurismus weitverbreitet und geht bis zu Verkehrsunfällen, wo gefilmt wird. Und sich Menschen am Leid anderer ergötzen. Das gilt erst recht bei kriegerischen Auseinandersetzungen. Alles wird ungefiltert und unreguliert gezeigt. Das ist ein Riesenproblem. Kinder und Jugendliche finden brutale Darstellungen und Propagandaaktivitäten, die bis zu Hinrichtungen gehen. Das ist verheerend.

STANDARD: Theoretisch sollten Plattformbetreiber in der Pflicht sein, um das zu filtern.

Schicha: Aufgrund der Fülle an Material ist es kaum möglich hinterherzukommen. Die Plattformanbieter leben von den Klicks, den Likes, dem Weiterleiten. Und da kommt die Popularität durch Brutalität ins Spiel. Schockbilder, Fake News, Provokationen und Polemik verbreiten sich rasant weiter. Gerade die Aufreger erzeugen Traffic, der den kommerziell ausgerichteten Plattformbetreibern zugutekommt. Daher stellt sich die Frage, ob die im Sinne des Jugendschutzes motiviert sind, solche Sachen zu filtern, oder ob sie die nicht einfach lieber laufen lassen, weil es sich kommerziell lohnt? (Oliver Mark, 2.11.2023)