Ein Palästinenser trauert in Deir al Balah im Gazastreifen um seine Angehörigen.
AP/Fatima Shbair

Die Grausamkeit ist auch mehr als drei Wochen später noch kaum zu fassen. Tausende auf Israel abgefeuerte Raketen, hunderte Hamas-Kämpfer, die in israelische Ortschaften eindringen und mehr als 1.400 Menschen wahllos und doch vorsätzlich ermorden. Zahlreiche weitere bangen immer noch um ihre Angehörigen, die in den Gazastreifen entführt wurden. Nichts rechtfertigt diese Gewalt.

Das heißt nicht, dass man deshalb die Augen vor der humanitären Katastrophe, die sich im Gazastreifen abspielt, verschließen, sie gar als "Kollateralschaden" abtun kann. Eine Totalblockade, durch die wochenlang weder Strom, Wasser, Nahrungsmittel noch Medikamente in ein dichtbesiedeltes Gebiet mit mehr als zwei Millionen Menschen dringen, während zugleich dauerhaft Luftangriffe stattfinden, ganze Stadtgebiete in Schutt und Asche gelegt werden, die israelische Armee nun mit Bodentruppen immer weiter vorrückt, während Hilfsorganisationen davor warnen, dass Evakuierungen aus Spitälern einfach nicht für alle Patientinnen und Patienten möglich sind, weil sie etwa auf Beatmungsgeräte angewiesen sind – all das muss Entsetzen auslösen.

Vorwürfe und Unterstellungen

Doch allein schon das Leid der palästinensischen Bevölkerung zu erwähnen scheint derzeit eine umstrittene Position zu sein. Jene, die auf die jahrzehntelange Geschichte des Konfliktes verweisen, Israel gar als Besatzungsmacht bezeichnen, werden in sozialen Medien sofort als Hamas-Unterstützer abgestempelt. Das trifft viele ausgewiesene Nahost-Expertinnen, Korrespondenten, die schon seit Jahren aus und über die Region berichten. Ihnen wird plötzlich Nähe zu einer Terrororganisation unterstellt, obwohl sie einfach nur ihren Job machen. Dabei geht es hier nicht darum, eine Seite zu wählen. Mitgefühl für die palästinensische Zivilbevölkerung bedeutet auch nicht, mit der Hamas zu sympathisieren.

Plötzlich gilt man als Israel-Feind, wenn man ein Ende der Kämpfe fordert, sich für Frieden und einen Waffenstillstand einsetzt. Dabei wird immer wieder der Vergleich zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine gezogen, die natürlich, genauso wie Israel, das Recht hat, sich im Rahmen des Völkerrechts zu verteidigen. Allerdings sind Akteure, Machtverhältnisse sowie der historische Kontext komplett unterschiedlich. Außerdem gibt es aus dem winzigen, dichtbesiedelten Gazastreifen kein Entrinnen für die Zivilbevölkerung.

Spirale des Hasses

Während in dieser aufgeheizten Atmosphäre antisemitische Übergriffe zunehmen, wächst auch die antimuslimische Stimmungsmache. Sie findet nicht nur in Online-Foren und sozialen Medien statt, wo rechte Journalisten Postings teilen, in denen "Mohammedaner" als "Pest" bezeichnet werden, die Ungarn "erfolgreich abgewehrt" habe und einstige "linke" Politikberater ernsthaft eine Unterbindung der Zuwanderung aus muslimischen Ländern vorschlagen. Der Diskurs durchdringt auch vereinzelt Redaktionen. So etwa die deutsche "Bild"-Zeitung, die kürzlich ein "Manifest" unter dem Titel "Deutschland, wir haben ein Problem!" veröffentlichte. Darin wird das Wort "Muslime" zwar nicht erwähnt – einzelne Punkte, etwa zu Verhüllung und Schweinefleisch, sprechen aber eine eindeutige Sprache. Zum wiederholten Mal wird eine gesamte Bevölkerungsgruppe dämonisiert und zum Problem abgestempelt, gegen das sich Einwanderungsgesellschaften wehren müssten.

Dabei wäre es in dieser Situation die Aufgabe von Journalistinnen und Journalisten, Menschen vor Ort – sowohl Israelis als auch Palästinensern – eine Stimme zu geben und auf den komplexen historischen Kontext zu verweisen, der in diesem jahrzehntelangen Konflikt mit so vielen Facetten und Dimensionen essenziell ist. Das bedeutet nicht, sich für eine Seite zu entscheiden oder jemandes Sichtweise zu übernehmen. Es bedeutet, mehrere Realitäten zugleich abzubilden und möglicherweise so dazu beizutragen, dass sie sich nicht noch weiter voneinander entfernen. (Noura Maan, 31.10.2023)