Ein Mann transportiert zwei Kinder im Lastenfahrrad.
Was bei Motorrädern längst Standard ist, erreicht nun auch den Fahrradsektor: ABS-Technologie, wie im Bild am Lastenfahrrad.
Bosch E-Bike Systems

Antiblockiersysteme (ABS) für Fahrräder sind keine ganz neue Entwicklung. Über die bereits erhältlichen Systeme für Mountainbikes wurde an dieser Stelle bereits berichtet. Seit 2023 gibt es nun auch ein eigenes System für Cargobikes auf dem Markt. Aktuell sind es mit dem deutschen Bosch-Konzern sowie dem italienischen Unternehmen Blubrake zwei Anbieter, die ihre ABS-Systeme speziell für Lastenräder angepasst haben. Während bei Bosch der schwäbische Bremsenproduzent Magura Partner der ABS-Entwicklung ist, haben sich bei der italienischen Konkurrenz die Japaner von Shimano eingekauft. Für den Tretlager-Test wurde ein Modell des deutschen Bosch-Magura Duos einen Monat lang im Alltag ausprobiert. Montiert war das ABS-System auf einem vollgefederten Cargobike der Marke Riese & Müller, Modell Load.

Nach den Erfahrungen am Mountainbike, wo die mittlerweile zweite Generation des ABS fürs Fahrrad zu überzeugen wusste, war die Erwartungshaltung beim Lastenrad dementsprechend groß. Denn wer regelmäßig mit den Schwergewichten unter den Rädern unterwegs ist, weiß, dass das richtige Bremsen hier besonders wichtig ist. Denn ein vollbeladenes Cargobike schiebt bei einer Reisegeschwindigkeit von 25 km/h ungleich stärker an als ein herkömmliches Fahrrad. Und weil die Ladung im Falle von Kindertransporten oft eine ganz besonders sensible ist, sollte man gerade bei dieser Kategorie Fahrrad den Bremsen und der richtigen Bremstechnik spezielles Augenmerk schenken.

Hündin Ella sitzt in der Lastenrad-Transportbox und wartet, dass Frauchen mit ihr losfährt.
Hündin Ella fungierte als Probefracht beim ABS-Lastenradtest der Tretlager-Kolumne.
Steffen Kanduth

Die Versuchsanordnung im Test

Im Tretlager-Praxistest übernahm die erfahrene Lastenradpassagierin Ella, eine Mischlingshündin mit knapp 30 Kilogramm, die Cargo-Rolle. Auf der technischen Seite kam das Riese & Müller mit einem handelsüblichen 250 Watt Bosch Cargo Line Mittelmotor. Dieses Rad wiegt unbeladen knapp 40 Kilogramm, das Vorderrad misst 20 Zoll, das Hinterrad 26 Zoll. Die Bremsen sind Magura MTC ABS mit relativ klobigen Hebeln, was das Bremsen mit nur je einem Finger pro Hebel etwas schwierig gestaltet. Gerade kleinere Hände schaffen den Reach zwischen Lenker und Bremshebeln kaum und müssen sich mit Zweifingertechnik behelfen. Ein Manko, das schon vom Mountainbike mit ABS bekannt ist und künftig besser gemacht werden soll, verspricht der Hersteller. Die Rotoren, also Bremsscheiben, sind mit jeweils 200 Millimetern vorne und hinten wiederum bestens dimensioniert, um dem Magura-Spitznamen "Schwaben-Anker" gerecht zu werden.

Das ABS wird automatisch zugeschaltet, sobald das Fahrrad in Betrieb genommen wird. Das übersichtliche Bosch Kiox Display, das einfach per Daumenschaltern am Lenker bedient wird, zeigt sowohl farblich als auch schriftlich an, dass das System aktiv ist. Grundsätzlich ändert sich durch das ABS erst einmal gar nichts am Fahrverhalten des Lastenrades. Und genau das ist auch Sinn der Sache. Denn seine Vorteile spielt die aus dem Motorradbereich entlehnte Technik erst aus, wenn es darauf ankommt – beim abrupten Bremsen. Wer einen normalen Bremsvorgang einleitet, wird das ABS nicht benötigen und somit auch nicht spüren. Das Sicherheitsfeature schaltet erst im Falle eines Bremsschlupfes zu, also wenn das Vorderrad blockiert und den Halt zu verlieren droht.

Sicherheitsplus mit physikalischen Grenzen

Beim Bosch-Magura-System sorgen Sensoren am Vorder- sowie Hinterrad dafür, das ABS im Bedarfsfall zuzuschalten. Das kleine, schwarze Kasterl, in dem sich die elektronische Steuerung befindet, fällt am Lastenrad weder auf noch ins Gewicht. Vereinfacht gesagt, vergleichen die Sensoren die Geschwindigkeit des Vorder- und Hinterrades beim Bremsvorgang und sollte sich dabei ein signifikanter Unterschied zeigen, der auf ein Wegrutschen des Vorderrades hindeutet, schaltet sich das ABS im Bruchteil einer Sekunde zu. Wie auch beim Mountainbike wirkt das System nur auf das Vorderrad, weil ein Blockieren des Hinterrades bei Fahrrädern weniger kritisch ist, als das des Vorderrades.

Für die Fahrerin oder den Fahrer bedeutet das ABS-unterstützte Bremsen einen maßgeblichen Unterschied. Denn egal wie fest man die Vorderbremse zieht, das Rad wird nicht blockieren und ausbrechen, sondern wie beim vom Auto bekannten ABS spurtreu bleiben, bei gleichzeitiger Geschwindigkeitsreduktion. Das kann vor allem in Notsituationen einen bedeutenden Sicherheitsvorteil bringen. Denn die Bremsleistung ist dank der großen Rotoren enorm und so empfiehlt es sich, unbeladen einige Probebremsungen durchzuführen. Denn der Bremsweg verkürzt sich merklich dank ABS. Das kann durchaus überraschend sein, wie sich im Tretlager-Test zeigte. Gerade wenn man "herkömmliche" Lastenradbremsungen gewohnt ist, wirkt das ABS-System im ersten Moment unglaublich stark. Wer mit Kindern unterwegs ist muss daher unbedingt die Gurtenpflicht beachten, denn das Sicherheitsplus durch ABS würde obsolet, wenn es die ungesicherten Kleinen im Falle einer Notbremsung aus der Kiste schleudert.

Bessere Bremsleistung, egal welcher Untergrund

Der Notfall wurde im Praxistest auf verschiedenen Fahrbahnbelägen getestet. Und das Urteil fiel eindeutig aus: bestanden. Egal ob nasser Asphalt, glitschiges Herbstlaub oder Schotterpiste. Die Bremsen funktionierten einwandfrei und unglaublich schnell. Vor allem der "Paniktest", also das plötzliche Ziehen der Vorderbremse mit voller Kraft, zeigte, wieso ABS am Fahrrad Sinn macht. Denn ein Blockieren und somit Stürzen kann durch die neue Technik tatsächlich ausgeschlossen werden. Gerade für Fahrerinnen und Fahrer, die sich beim Bremsen unsicher fühlen, bringt ABS einen enormen Vorteil. Man kann sich an die richtige Bremstechnik förmlich herantasten, denn das ABS setzt erst im Notfall ein.

Interessant war im Test der Unterschied zwischen unbeladen und beladen. Denn bei Long-John-Modellen wie dem Riese & Müller, darunter versteht man Lastenräder mit zwei Reifen und einer Ladenfläche vorm Lenker, bricht das Vorderrad unbeladen oft schneller aus als beladen. Denn das Gewicht der Last sorgt am Vorderrad für mehr Traktion. Wer selbst Erfahrung am Cargobike hat, kennt womöglich das Flattern des Vorderrades, das bei manchen Modellen unbeladen ab einer gewissen Geschwindigkeit einsetzen kann. Das mit ABS ausgestattete Lastenrad zeigte jedenfalls auch unbeladen eine hervorragende Bremsleistung.

Positives Fazit mit kleinen Abstrichen

Aber auch mit elektronischer Bremshilfe bleibt das Gewicht eines Lastenrades ein nicht zu unterschätzender Faktor beim Bremsen. Mit, wie beim Testrad gegebenen, weit über 100 Kilogramm Nutzlast ist so ein Gefährt ein ordentlicher Brocken. Und der kann, einmal in Bewegung, vor allem bergab mit gehöriger Kraft anschieben. Daher gilt gerade in Kurven auch mit ABS Vorsicht. Denn das System stößt hier an seine physikalischen Grenzen, die auch das ABS nicht eliminieren kann. Als besonders gefährlich erwiesen sich in dem Zusammenhang etwa Kanaldeckel oder mit Farbe markierte Straßenflächen, die bei Nässe echte Rutschfallen sind. Lenkt man das Vorderrad auf solchem Untergrund und bei zu hoher Geschwindigkeit zu stark ein, wird es auch mit ABS wegrutschen. Das Gewicht, das dabei von hinten anschiebt, ist einfach zu groß.

Nach jahrelanger Alltagserfahrung auf diversen Lastenradmodellen fällt das Fazit zur neuen ABS-Technik aus Benutzersicht sehr positiv aus. Die Sicherheit beim Bremsen, ob mit oder ohne Beladung, verbessert sich merklich. Das erleichtert Neueinsteigern das Handling sehr. Und gerade in der Übergangszeit, wenn Straßen nass und rutschig sind, hilft der elektronische Bremsassistent enorm. Denn wer meint, seine Finger seien schneller als die Technik, belügt sich in den allermeisten Fällen selbst. Und gerät so ein Cargobike einmal ins Rutschen, dann tun sich auch versierte Lenkerinnen oder Lenker schwer, es wieder in den Griff zu bekommen, ohne dabei zu Boden zu gehen. Doch ABS ist auch kein Freibrief für unbedachtes Fahren, denn das Gewicht eines solchen Rades macht das Bremsen ungleich schwieriger. Wer zu schräg in die Kurve einfährt, wird auch mit ABS das Wegbrechen des Vorderrades nicht gänzlich ausschließen können. Angesichts der oft besonders sensiblen Fracht bleibt also in jedem Fall Vorsicht und vorausschauendes Fahren geboten.

Experten sehen Sicherheitsplus

Um an dieser Stelle nicht allein das subjektive Test-Ergebnis anzuführen, haben wir auch bei den Lastenrad-Experten von Heavy Pedals in Wien nachgefragt. Die sehen in der neuen ABS-Technologie durchaus die Möglichkeit, Cargobikes für Endkunden sicherer zu machen: "Wer keine oder wenig Erfahrung mit hydraulischen Scheibenbremsen am Fahrrad hat, den kann die Bremskraft dieser Modelle überraschen. ABS kann hier helfen, gefährlichen Situationen vorzubeugen." Allerdings fehle es noch an Erfahrung mit dieser Technik, da sie noch sehr neu und serienmäßig bisher nur in wenigen Modellen verbaut ist. Ab 2024 steht auch bei Heavy Pedals ein Testrad mit ABS zur Verfügung.

Ganz im Westen betreibt Eric Poscher-Mika das Fachgeschäft für Fahrradmobilität namens Vorradeln in Dornbirn. Er war auch Co-Autor von "Car Go Bike Boom", dem Fachbuch zu Geschichte, Kultur, Nutzung und Technik von Transporträdern. Er hält das ABS für eine "spannende Entwicklung", die das Lastenrad insgesamt sicherer macht. Gerade für jene Nutzerinnen und Nutzer, die sich beim Fahren noch etwas unsicher fühlen oder die am Lastenrad nicht ihre fahrerischen Grenzen ausloten wollen, würden davon profitieren, sagt Poscher-Mika. Gerade für Long John-Modelle sei das ABS prädestiniert, so der Experte: "Weil bei diesen Rädern enorm viel Bremskraft am Vorderrad wirkt." Ein Überschlag, wie er mit einem herkömmlichen Bike passiert, wenn man zu stark die Vorderbremse zieht, ist mit einem Long John so gut wie unmöglich. Stattdessen wirke mehr Kraft aufs Vorderrad, was wiederum bei losem oder rutschigem Untergrund leichter zu einem Kontrollverlust führe. Wer in West-Österreich ein Lastenrad mit ABS-System testen will, kann sich mit Poscher-Mika in Verbindung setzen. Er arbeite bereits daran, über Riese & Müller ein Testrad zu bekommen.

Hersteller im Rechtsstreit

Und wer sich für die Anschaffung eines Lastenrades mit ABS-Technik interessiert, kann wie erwähnt unter derzeit zwei ABS-Herstellern wählen. Die Verfügbarkeit hält sich allerdings noch in Grenzen, abgesehen von Riese & Müller mit Bosch-Magura-Technik ist dem Tretlager sowie den befragten Experten bisher kein Lastenrad-Hersteller bekannt, der bei uns ein Modell mit ABS im Handel anbieten würde. Ein Testbike von Blubrake war bisher nicht verfügbar. Und überhaupt scheinen die Hersteller derzeit im Clinch zu liegen. Denn wie die Fachpresse im September berichtete, hat Blubrake ein kartellrechtliches Verfahren gegen Bosch angestrengt. Man darf gespannt sein, wie die ABS-Entwicklung vorangeht.

Nachrüstbar ist die derzeit vorhandene ABS-Technik jedenfalls nicht. Man muss dazu schon ein neues E-Lastenrad anschaffen. Und auch der E-Antrieb ist obligatorisch, weil das System den benötigten Strom aus dem E-Bike-Akku bezieht. Wie hoch der Aufpreis ist, der dafür hinzublättern sein wird, kann noch nicht allgemein gesagt werden. Im Falle der Mountainbike-Version war von etwa 500 Euro Zusatzkosten fürs ABS die Rede. (Steffen Kanduth, 3.11.2023)