Peter Handke ist für seine verspielten Westen mindestens ebenso berühmt wie für seine Wortneuschöpfungen und Detailbeobachtungen. Nachzulesen in seinem neuen Buch.
imago images/Agencia EFE

Wer sich an die Nobelpreis-Vorlesung Handkes 2019 erinnert, erkennt das Dilemma wieder: Damals berichtete Handke von seinem Onkel Gregor, der es bei einem seiner Fronturlaube im Zweiten Weltkrieg nicht übers Herz brachte, der Familie die Nachricht zu überbringen, dass sein Bruder Hans gefallen war. Einen solchen Bruder Hans hat auch Gregor Werfer, Hauptfigur in Handkes neuem Buch Die Ballade des letzten Gastes. Die Todesnachricht vom Bruder, umgekommen in der Fremdenlegion, erreicht ihn am "Taschentelefonbildschirm", nachdem er aus dem Bus gestiegen ist.

Zuletzt haben Handkes Unterwegsseiende, etwa in Das zweite Schwert, eher kurze Reisen unternommen. Dass einer nach Amerika aufbricht? Lange vorbei! Von weither kommt allerdings nun des Dichters Strawanzer heim. Drei Transkontinentalflüge und einen Bus braucht Gregor zurück in seine alte "Heimatgegend". Heimat ist die Gegend aber kaum noch. Die "Hofstatt" ist großteils Neubauten gewichen, bis auf "eine Armlänge" sind Nachbarn an die Sitzbank gerückt.

Vom anderen Erdteil, in dem Gregor auf seine "Ein-Mann-Expeditionen" geht, erfahren wir nicht viel mehr, als dass dort die gegenteiligen Jahreszeiten herrschen. Einmal im Jahr schaut er, ohne Frau und kinderlos, in der alten Heimat vorbei. Kärnten ist diese "Peripherie" am Rande einer "Agglomeration" aber eindeutig nicht, eher des Autors Wahlheimat: ein Vorort von Paris. So verschmilzt alles. Eine Woche wird er bleiben, freut sich auf das schweigsame Kartenspielen mit dem Vater, die nur mit den Augen durchgeführten Befragungen der Mutter. Die um einiges jüngere Schwester ist eben Mutter geworden, das Kind soll vor seiner Abreise getauft werden.

Umwege machen und sich verirren

Gregor ist, abgesehen davon, dass man den Namen aus früheren Werken und der Familiengeschichte des Autors kennt, eine typische Handke-Figur. Umwege machen und sich verirren findet er gut, Chaos gibt er den Vorzug vor Festschreibungen. Erwartungen weicht er mit einem "Seiten-und-Ausweichschritt" aus. Nein, Handke erfindet sich jenseits der 80 nicht mehr neu. Seinen Beruf? Sieht Gregor darin, "Chronist" zu sein, "Umgestalten" lehnt er ab.

Nach weniger als 30 Seiten wird er sich darin aber schon untreu! Der Familie, die so begierig auf Nachrichten von Bruder Hans wartet, wird Gregor erst vor seiner Abreise die traurige Botschaft überbringen und ihnen bis dahin von dessen früheren Liebesgeständnissen berichten. Das sei immerhin "rechtschaffen falsch".

Im Jahresrhythmus erscheinen die späten Werke des Dichters mittlerweile. Drei Monate hat die Arbeit an diesem vorigen Herbst gedauert. Es wirkt besonders richtungslos. Ist das ein Schlenker zu Bodenversiegelung und Klimawandel? Womöglich! Viel Zeit verbringt Gregor jedenfalls nicht mit den Seinen. Am nächsten Morgen schleicht er zum Obstgarten, wird dort trotz "Fruchtzeit" keine Früchte finden, doch auf einen Wildapfel stoßen, der "so bitter" ist, "daß es dir das Arschloch zusammenzieht bis Allerseelen".

Ein Strolch im Alltag

Einmal ruft Handke das Epos von Odysseus, dem "Spätheimkehrer", auf. Auch Gregor strolcht herum, geht nachts einkaufen (aber in jedem Laden nur ein Ding), schläft in einer Straßenbahn (und wird am Morgen von den Straßenbahnfahrern mit Kaffee bewirtet), sitzt in einem leeren Fußballstadion (und beobachtet eine einsame Spielerin). Das Alltägliche und das Wundersame schütteln einander Mal um Mal kräftig die Hand. In Gaststätten, bei Handke seit je Orte der Geselligkeit, spürt er den "Anschein, des Willkommen-, gar Gutgeheißenwerdens". Als letzter Gast will Gregor in der "hintersten" Kammer schlafen.

So passiert nicht viel, außer dass einer erlebt. Die Freiheit muss sich erst einer nehmen! Hans hatte dem Bruder einst vorgeworfen, er sei ein "Feind der Phantasie" oder habe sogar Angst vor ihr. Wer braucht aber Fantasie, wenn er solche Wahrnehmungen hat, will man entgegnen!?

Sein Patenkind schmückt Gregor mit Namen wie "Klein Moses, schwimmend fern vom Nil in der eigenen Pisse!" oder "Furzkaspar!". Der Täufling dankt ihm mit einer "Zornader" auf den Schläfen und einem gegen Gregor gerichteten Schrei. "Wir Kippfiguren!", heißt es in dem Band. Handke bleibt ein Prophet des kleinsten Verbindenden. Hier wird dem Nächsten nicht der Fuß gewaschen, sondern der Schuh geschnürt. Eigenwillen und Schalk kann nicht nur das Kind von Gregor lernen. Für Action wünscht man dem Kleinen jedoch Verwandte aus Büchern, die mit weniger Beistrichen auskommen. (Michael Wurmitzer, 3.11.2023)