Eine Rose auf einer Betonstele des Holocaust-Mahnmals in Berlin-Mitte. Das Bild entstand am 22. Oktober dieses Jahres.
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Mit dem bewussten Erinnern von Gewalt, Verfolgung und Genozid geht der Wunsch einher, Lehren für die Gegenwart und die Zukunft zu entwickeln. Nach der Katastrophe des Nationalsozialismus schrieb Theodor W. Adorno sein Plädoyer für Vernunft und Aufklärung – wenn Menschen nur mit ausreichend Wissen versorgt wären, ließen sie sich nicht von Propaganda und Faschismus täuschen.

Verfolgt man das Ringen um vermeintliche Wahrheiten in unserem postfaktischen Zeitalter, hat diese Forderung nichts an Wichtigkeit verloren. Wissen ist und bleibt ein zentraler Schlüssel für die historisch-politische Bildung und damit für die Ausbildung von demokratischem Denken (vgl. Theodor W. Adorno, Erziehung nach Auschwitz ). Zugleich sind Geschichtsschreibung und Erinnerungskultur in diversen, offenen Gesellschaften einem permanenten Wandel unterworfen, da die Gemeinschaft immer neu verhandeln muss, was sie zusammenhält. Und mit dem wachsenden zeitlichen Abstand zu den Ereignissen des Naziregimes verliert die Erinnerung jene Dringlichkeit, die sie lange auszeichnete.

Nur mehr wenige Überlebende des Holocaust und der Nazigenozide können heute noch ihre Geschichte erzählen. Und es ist längst vergessen, gegen welch große Widerstände diese Erinnerung erkämpft und errungen werden musste. "What the memory repudiates controls the human being", was die Erinnerung zurückweist, kontrolliert das menschliche Wesen, schrieb James Baldwin in Evidence of Things Not Seen. Kollektives Vergessen hat sein eigenes Archiv und nimmt auf diese Weise Einfluss auf Gemeinschaften, vor allem dann, wenn es keinen Konsens darüber gibt, ob der heilende Effekt dem Erinnern zukommt – oder dem Vergessen.

Kampf um Erinnerung

Unsere Gegenwart ist kompliziert geworden und mit ihr der Blick in die Vergangenheit. Vermutlich waren die Kämpfe um das Erinnern noch nie so dramatisch, so global, so existenziell wie heute. Die Konflikte um die Deutungshoheit über die Geschichte sind eng verknüpft mit den aktuellen ideologischen Verwerfungen und Krisen: Fluchtbewegungen, Pandemie, Rohstoffmangel, Inflation, Krieg und Erderwärmung. Mit dem Fortschreiten der Klimakatastrophe werden sich die damit verbundenen gesellschaftlichen Krisen weiter zuspitzen. In dieser dramatischen Lage berufen sich Staaten auf vermeintlich heroische Vergangenheiten, verstärken und befestigen nationale Grenzen – ungeachtet der Tatsache, dass sich Stürme, Hitze oder Wassermangel davon nicht beeindrucken lassen.

Anstatt nach gemeinsamen und solidarischen Lösungen zu suchen, bewegen sich Gesellschaften in einem Spannungsfeld von Schockstarre, Leugnung und Angst über die Fragilität der menschlichen Existenz. Der eine oder andere Kampf um die Vergangenheit scheint auch ein Ausdruck dessen zu sein, dass es an Zukunftsperspektiven fehlt.

Im Gegensatz zu den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts gelten politische Utopien 2023 als naiv und von gestern, und der Glaube an die Möglichkeit einer Veränderung ist selten geworden. Wissenschaftliche Einschätzungen können immer weniger mit Konsens rechnen und werden seit Trumps Erfindung der "alternative facts" durch Meinungen ersetzt. Weil "Panik, Müdigkeit, Zukunfts- und Existenzangst, Krisengefühl und ständiger Stress" Gift sind für ein tieferes Verständnis der Welt, fehlt es oft an der Zeit für eine wirkliche Beschäftigung "mit Kunst und Kultur, die Diskussion von Ideen, das Nachdenken über Gesellschaft" (Johannes Franzen, X, vormals Twitter, @johannes42, 12.3.2023).

Mit den sozialen Medien wurde ein neuer Turm von Babel geschaffen. "Wir sind desorientiert, unfähig, die gleiche Sprache zu sprechen oder die gleiche Wahrheit zu akzeptieren. Wir sind abgeschnitten voneinander und von der Vergangenheit", so schreibt der New Yorker Sozialpsychologe Jonathan Haidt im Magazin The Atlantic. Seiner Meinung nach werden diverse, säkulare Demokratien gerade von der Erfahrung einer gemeinsamen Vergangenheit zusammengehalten. Was aber, wenn diese Vergangenheit wie so oft eine gewaltvolle, trennende ist?

Es gehört wohl zu den schwierigsten Herausforderungen, mit Brüchen, Verletzungen und Traumata infolge von Krieg, Genozid und Ausbeutung umzugehen, zuallererst für die Betroffenen und deren Angehörige, aber auch für Gesellschaften als Ganzes. Gerade darin, im Umgang mit dem Gedächtnis der Gewalt, lässt sich in der aktuellen Polykrise eine besondere Zuspitzung beobachten. Nationalismus und zeitgenössische Formen des Faschismus erfinden die Vergangenheit neu in nostalgischen Wir-Erzählungen, die Menschen und Gruppen ausschließen und Vielstimmigkeit als Gefahr betrachten.

Auch in autokratischen Gesellschaften spielen Geschichte und Gedächtnis eine große Rolle – um nur das aktuelle Beispiel Russland zu nennen: Ein Land, das in dramatischer Weise unter dem von Nazideutschland angezettelten Weltkrieg gelitten hat, sammelt sich Jahrzehnte später hinter einem Diktator, der angeblich einen neuerlichen Abwehrkampf gegen Nazis im Westen führt.

Wahrscheinlich aber geht es Wladimir Putin bei dem Angriffskrieg gegen die Ukraine ähnlich wie bei den seit Jahren andauernden Cyberattacken auf freie Wahlen in demokratischen Ländern um ein Ende der offenen Gesellschaft und ihrer Werte. Geschichte und Erinnerung werden in diesem propagandistischen Feldzug instrumentalisiert, benutzt und verzerrt. Als hochpolitische Themen sind Geschichte und Gedächtnis besonders anfällig dafür, bewusst für eigene Interessen instrumentalisiert zu werden – und wenn es nur darum geht, von den fehlenden Zukunftskonzepten abzulenken.

Kultur der Verantwortung

Die offizielle Geschichtspolitik weicht dabei auch in demokratischen Gesellschaften oft von der differenzierten Sicht der Geschichtswissenschaft ab. Geschichte soll Identität schaffen, auch wenn es oft und immer häufiger an Wissen mangelt. Selbst in Deutschland, wo besonders in den vergangenen dreißig Jahren ein dichtes Netz von Institutionen und Angeboten zur Geschichte des Nationalsozialismus und des Holocaust aufgebaut wurde, nimmt das Wissen um dieses Thema rapide ab.

Die sogenannte Erinnerungskultur ist in Deutschland eng verknüpft mit Erziehung zur Demokratie und damit dem Bemühen, demokratische Urteilskraft zu schärfen. Aus der Erfahrung der Schuld soll, im besten Fall, eine Kultur der Verantwortung entstehen. Es liegt eine paradoxe Stärke in der Demokratie als Staatsform, deren Stabilität viel beschworen wird, aber deren eigentliche Kraft in ihrer Offenheit und Lernfähigkeit liegt. Und dasselbe gilt auch für demokratische Kulturen und Formen des Erinnerns.

Anders als noch vor zwanzig Jahren nimmt Deutschland sich heute als eine diverse Gesellschaft wahr, auch wenn immer noch über die Vielheit der Bevölkerung gestritten wird und im Schulunterricht und in der politischen Bildung Nachholbedarf besteht. Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine haben manche Überlebende aus Bosnien nach dreißig Jahren zum ersten Mal von ihren Erfahrungen berichtet. Etwa zur selben Zeit kamen die Flüchtlinge des Massakers von Butscha und der russischen Bombenangriffe, einige von ihnen hochbetagte Holocaustüberlebende, in Deutschland an.

Werden ihre Erinnerungen irgendwann Teil der deutschen Geschichte werden? Oder wird die deutsche Geschichte Teil ihrer Erinnerungen? Wie inklusiv kann oder muss ein nationales Erinnerungsdenken sein? Für die Erziehungswissenschafterin Astrid Messerschmidt war das Nachdenken über Erinnerung "bisher in Deutschland weitgehend selbstbezüglich, man drehte sich um die eigene nationale Identität, um ein immer noch in nationalen Kategorien beschriebenes Verhältnis zur Geschichte". Bis in die 1990er-Jahre stritten Historiker:innen darüber, welche Rolle die Erfahrungen der Verfolgten des Naziregimes in einer "objektiven" Darstellung von Geschichte, die lange nur aus der Perspektive der Täter:innen geschrieben worden war, überhaupt spielen dürften.

Im "neuen Historiker:innenstreit" rund um die These des "multidirektionalen Erinnerns" des amerikanischen Literaturwissenschafters Michael Rothberg wurde und wird nun darüber verhandelt, ob und inwiefern die Erinnerung an den Nationalsozialismus in Deutschland in den Kontext anderer Gewaltgeschichten, wie die des Kolonialismus, gestellt werden darf.

Erweiterung des Nachdenkens

In der Wahrnehmung der einen werden diese unterschiedlichen Erinnerungen als "gegenläufig" beschrieben, während die anderen von einer notwendigen Erweiterung des Nachdenkens über die Vergangenheit sprechen. Natan Sznaider argumentiert in Fluchtpunkte der Erinnerung (Hanser, 2022) aus der jüdischen Erfahrung für eine "Geschichte des ,Sowohl-als-auch‘" als eine "Geschichte, die diese Dichotomien aufbricht". Jonathan Haidts babylonische Verwirrung in den sozialen Medien hat auch eine produktive Seite, weil sie eine Demokratisierung des Erinnerns angeregt hat: Leerstellen werden aufgezeigt und homogene nationale Geschichtserzählungen infrage gestellt.

Die eigene Erfahrung abgebildet, erzählt und respektiert zu sehen ist ein zentraler Teil menschlicher Souveränität und damit auch der Souveränität von Gemeinschaften. An solchen Momenten der Souveränität, die aus individuellem und kollektivem Erinnern entstehen, orientiert sich dieses Buch. Erinnerungsarbeit wird in den folgenden Kapiteln nicht als isolierter Prozess betrachtet, sondern als eine Form des Nachdenkens in räumlichen und zeitlichen Kontexten.

Mirjam Zadoff, geb. 1974 in Innsbruck, war von 2014 bis 2019 Professorin für Jüdische Studien und Geschichte an der Indiana University Bloomington, seit 2018 leitet sie das Münchner NS-Dokumentationszentrum.
NS-Dokumentationszentrum München, Connolly Weber Photography

Die Essays in diesem Band beschäftigen sich mit der Spannung zwischen Geschichte und Gegenwart, jener fragilen und zugleich fluiden Verbindung, in der Gedächtnis und Erinnerung begründet liegen. Mit dem Blick auf Gewalt und Gedächtnis schöpfen sie aus den Geschichten von und über Menschen, die Ausgrenzung, Migration und Flucht erlebt haben; von Menschen, die zu den Überlebenden eines Genozids gehören und die als Erste und gegen alle Widerstände ihre Erlebnisse in Worte fassen.

Mit ihrem Erzählen ordnen sie die Erfahrung sinnloser Gewalt für sich selbst ein und verleihen ihr nachträglich Sinn, eben durch ihre Zeugenschaft. In diesem schmerzhaften Prozess übersetzen sie ihr Trauma in eine erzählbare Geschichte, die weitergegeben werden kann. Auf diese Weise wagen sie sich mit intimen Erfahrungen in eine Öffentlichkeit, deren erste Reaktion meist Desinteresse ist. Es geht mir auch darum zu zeigen, dass der Prozess des Erinnerns und Gedenkens nicht nur ein widerständiger Akt ist, sondern einer, der sich selten im luftleeren Raum abspielt.

Künstlerische Formate

Ein Blick in die Geschichte des Gedächtnisses von Gewalt zeigt, dass viele Initiativen seit jeher transnational und transkulturell angelegt waren, indem sie aus einem Gedächtniskollektiv in ein anderes hineinwirken. Damit ist auch die Vielfalt ihrer ästhetischen und methodischen Zugänge gemeint, zu denen Literatur ebenso gehört wie Kunst, Film, Theater, Tanz, Musik, Comics oder die Wissenschaften. Gerade um diese Vielgestaltigkeit geht es in diesem Buch, das einzelne kuratorische, künstlerische und forschende Gedächtnisprojekte in Europa und der ganzen Welt bespricht, beispielhaft und ohne Anspruch auf Vollständigkeit.

Neben dem Wissen und der Zeugenschaft liegt es aktuell gerade an künstlerischen Formaten, die gesellschaftliche Relevanz von Gedächtnis und Erinnerung neu zu verhandeln. In ihrer radikalen Individualität schaffen sie nicht nur eine Verbindung zwischen rationalem und emotionalem Wissen, sondern spiegeln auch die vielen Ebenen und Formen des Erinnerns wider. Für seine Collage Ordnung muss sein verwebte der deutsche Medienkünstler Marcel Odenbach 2019 die Bilder des Täter- und Mitläufervolks eng mit den Bildern der Verfolgten, Geflüchteten und Ermordeten. Von weitem entsteht dabei das Bild eines Besteckschrankes im Kanzlerbungalow in Bonn, der zwischen 1963 und 1966 in der Tradition der klassischen Moderne errichtet worden war.

Das Wohn- und Empfangshaus der deutschen Bundeskanzler von Erhard bis Schröder wurde zum Symbol für eine weltoffene Bundesrepublik, mit seinen Sichtachsen und flexiblen Raumkonstruktionen, dem römischen Travertin und der brasilianischen Kiefer – vergessen die deutsche Eiche und der Travertin aus Buchenwald. Bei genauerem Hinschauen finden sich in den vielen Fächern des akribisch sortierten Besteckschrankes winzige Bilder von Naziverbrechen und -verbrechern, aber auch von den Verfolgten.

Ein Foto, das immer wieder auftaucht, ist das des Münchner Anwalts Michael Siegel, aufgenommen am 10. März 1933. An diesem Tag war Siegel ins Polizeipräsidium in der Ettstraße gegangen, um sich zu beschweren, dass einer seiner jüdischen Mandanten ohne Begründung festgenommen und nach Dachau geschickt worden sei.

Komplexe Wirklichkeit

Der ebenfalls jüdische Anwalt glaubte sich in einem Rechtsstaat, wurde jedoch rasch eines Besseren belehrt. Nicht die Polizei, sondern die SA empfing ihn in der Ettstraße, verprügelte ihn und jagte ihn mit abgeschnittenen Hosenbeinen barfuß durch die Straßen. Ein arbeitsloser Pressefotograf nahm die Szene auf, und das Bild erreichte über Umwege die New York Times. Als Beweis für die Grausamkeit der Nazis und den Systemwechsel in Deutschland erschien das Foto des gedemütigten Michael Siegel bald in allen großen Tageszeitungen weltweit.

In Marcel Odenbachs großformatiger Collage taucht das Foto immer wieder auf, mehrfach aneinandergereiht oder einzeln – und die Ordnung erinnert an einen Twitterfeed, indem dasselbe Bild als "breaking news" immer wieder gepostet wird. Die Wiederholung aktualisiert das Ereignis und verleiht ihm Dringlichkeit, zugleich füllen die immer selben Fotos Leerstellen der Bilder, die nicht aufgenommen, und der Geschichten, die nicht erzählt wurden, sowie der Verfolgten, die keine Spuren hinterlassen haben.

Drei Zeitebenen vermittelt diese Collage, denn neben der Mikro- und der Makroebene der Bildlichkeit ist auch der Moment der künstlerischen Produktion von Bedeutung: eine Zeit, in der nur mehr wenige Überlebende Zeugnis ablegen können und rechtspopulistische, neonazistische Parteien an die Macht kommen. Durch diese übereinandergelagerten Schichten entsteht – ähnlich wie beim Erinnern – eine komplexe Wirklichkeit.

Kunst fördere "die Bildung eines Selbstverständnisses, zu dem auch politisches Engagement gehört", schreibt die amerikanische Autorin Rebecca Solnit in Orwells Rosen (Rowohlt, 2022). "Die bloße Ermahnung, sich zu engagieren, oder Tiraden darüber, was alles schiefläuft, führen dagegen nicht unbedingt zu der Empathie, der Einsicht, den Prinzipien, der Orientierung, den kollektiven Erinnerungen, die für ein solches Engagement erforderlich sind."

Die Welt in ihrer Schönheit zu zeigen, ihrer Verletzbarkeit und Vielfalt, lässt sich deshalb nicht trennen von der Geschichte der Gewalt und des Traumas. Was Menschen in der Lage sind zu erschaffen und zu welchen Zerstörungen und welchem Leid sie gleichzeitig fähig sind, ist Teil derselben Vergangenheit. Avrom Sutzkever hatte recht, wir hätten damals noch viel ausführlicher über seine Gedichte sprechen sollen. (4.11.2023)

Mirjam Zadoff, "Gewalt und Gedächtnis. Globale Erinnerung im 21. Jahrhundert". € 25,70 / 240 Seiten. Hanser, München 2023
Hanser Verlag