Ein Roman kann nicht anders, als eine tiefere Wahrheit zu zeigen.
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Ein Roman verhält sich zur Realität wie ein außergewöhnlicher Traum zum Wachen. Am Ende stellt sich die Frage, ob der Roman und der Traum nicht die höhere Wirklichkeit enthielten. Stellt sich die Frage nicht, war’s womöglich kein guter Roman. Denn Literatur, wahrhaftige Literatur, ist nur für eines da: das Allergrößte. Für das Entdecken von Zeit und Raum. Das Entdecken der Welt. Und natürlich für das Entdecken und Aufdecken des Lebens und des Rätsels Mensch.

Was in einem Roman geschrieben steht (einem wahrhaftigen natürlich, hier soll immer nur vom wahrhaftigen Roman die Rede sein), ist immer wahr. Selbst wenn der Roman lügt. Denn ein Roman kann nicht anders, als eine tiefere Wahrheit zu zeigen. Tiefer bezogen auf die gegenwärtig gültige, normale, also bald einmal womöglich Nicht-mehr-Wahrheit.

Ein Roman schaut aufs Jetzt. Aber er schreibt von diesem Jetzt aus immer das Morgen. Albert Einstein wusste das. Er muss ein großartiger Leser von Romanen gewesen sein, fand er doch, dass Fantasie wichtiger sei als Wissen. Natürlich ist Wissen wichtig, aber es ist beschränkt, es entspricht der Wirklichkeitsübereinkunft des Hier und Heute. Was aber ist morgen, was ist mit übermorgen? Was mit dahinter, mit rechts und mit links, mit drunter und drüber?

Einatmen und Ausatmen

Ein Roman ist immer echt. Was in einem Roman geschrieben steht, geschieht, ist geschehen, wird geschehen. Ein Roman ist immer wirklich. Er ist nie Fiktion. Der Begriff "fiktionale Literatur" ist ein Oxymoron. Wahrhaftige Literatur ist nicht fiktional, ihre Sätze stammen aus dem grenzenlosen Kosmos der Wirklichkeit. Literatur wird nicht erfunden, sie wird gefunden. Mittels literarischen Blicks. Vergleichbar ist der womöglich mit dem technischen Sichtbarmachen von ultraviolettem Licht oder dem Erkennen von Tönen und Größenordnungen, die außerhalb der Sinnesgrenzen liegen.

Die Macht der Literatur macht die menschlichen Grenzen weit. Sehr weit. Nicht weniger als Raum- und Zeitensprünge werden möglich. Gänzlich ungeniert bedient sich Literatur bei Wissenschaften, Religionen, Mythen, Philosophie und anderen Künsten. Sie schnappt sich den aktuellen Stand der Dinge, rollt sich darauf den roten Teppich aus und baut ihr Schloss in alle Himmel. Wir dürfen darin Wohnung nehmen, dürfen auf allen Seiten aus den Bogenfenstern blicken, in neue Welten, dürfen gehen durch ungekannte Zimmer unseres Ichs.

Wittgenstein sagte, nichts könne sich selbst erklären. Literatur schafft Abhilfe. Schriftsteller sind Träumer, die Wirklichkeit träumen. Literatur ist helles Sehen. Und Lesende sind Abenteurer, die finden, was sie nie geahnt haben zu suchen. Das haben sie mit ihren Verbündeten, den Schreibenden, gemeinsam. Beide sind Suchende, sind wider ihre Erwartung Findende. Zu sagen, Lesen und Schreiben haben glückliche Gemeinsamkeiten, wäre eine Untertreibung. Lesen und Schreiben bilden eine Ganzheit. Ohne das eine wäre das andere nicht. Lesen und Schreiben – die zwei Gesichter des Janus. Lesen und Schreiben – Einatmen und Ausatmen.

Literarisch Schreibende müssen zuerst literarisch Lesende sein. Literarisch-schreiben-Können setzt Literarisch-lesen-Können voraus. Wer nicht oberflächlich die Seiten entlangeilt, sondern literarisch liest, schreibt mit, denkt mit, erlebt mit, lässt sich ein und ist damit, ja ist der Text; ebenso wie der Schreibende der Text war und ist. Literatur lesen – es ist ein nicht minder schöpferischer Akt als Literatur schreiben.

Thomas Sautner
Thomas Sautner (*1970) ist Schriftsteller und Essayist. Er lebt in seiner Heimat, dem nördlichen Waldviertel, sowie in Wien.
Erich Reismann

Ein Zaubertrick

Der größte Unterschied zwischen Lesenden und Schreibenden ist vielleicht, dass Lesende wissen, was sie da so treiben. Die Wahrheit nämlich ist: Das Schreiben von Literatur ist ein Zaubertrick, von dem der Zauberer keine Ahnung hat, wie er funktioniert. Den Hauptjob erledigt ohnehin in aller Heimlichkeit nicht der Schreibende selbst. Sondern sein Unbewusstes.

So unterschiedliche Schreibende wie Ilse Helbich, Norman Mailer und Daniel Kehlmann haben freimütig davon erzählt. Tatsächlich ist der Schreibende im besten Fall lediglich der Sekretär des Textes. Der Schriftsteller hält sich sozusagen nur bereit – ein hoffnungsvoll Demütiger, der einer Idee, einer Zeile, einem Satz zu begegnen sich sehnt. Um schließlich eben diese Idee, diese Zeile, dieser Satz zu werden. Es ist ein Zauber, der durch Willensanstrengung oder reines Nachdenken nie glücken würde. Erst der Prozess des Schreibens ermöglicht das Wunder. Undenkbares geschieht und wird zu Schrift. Hieroglyphe, geheiligte Kerbe, sagten die alten Griechen, Medu Netscher die Ägypter. Gottesworte.

Nietzsche berichtete: Ein Gedanke kommt, wenn er will, und nicht, wenn ich will. André Gide sagte: Die Kunst ist die Zusammenarbeit von Gott und dem Menschen. Je weniger der Mensch dabei tut, desto besser. Irdischer, aber nicht weniger verklärt formulierte es Proust: Ein Buch ist das Produkt eines anderen Ich als jenes, das wir in unseren Gewohnheiten, in der Gesellschaft zur Schau stellen.

Das Unbewusste

Ob wir es uns nun theologisch oder psychologisch erklären: Schlau ist es jedenfalls, dass Schreibende den kreativen Job von kompetenter Seite, also ihrem Unbewussten, erledigen lassen und sich anschließend mit mehr oder weniger Handwerkskunst (immer aber unter Schweiß und Tränen) auf das Lesbar-Machen des genialischen Entwurfs beschränken.

Das Unbewusste hat schließlich mehr Erfahrung im Elysischen, neurologisch ist es viel älter als das Bewusste, seine Wurzeln reichen tief, es hat Verbindungen, von denen wir buchstäblich nur träumen können. Das ermöglicht dem Unbewussten jenen Zauber, der uns zuweilen geschieht. Musik ist für das Unaussprechliche gemacht, sagte Debussy. Ja, und Literatur ist für das andernfalls Undenkbare gemacht.

Bei klassischer Musik käme niemand auf die Idee, ihre Wirklichkeit zu hinterfragen. Sie ist selbstreferenziell. Sie ist echt, sie lebt. Sie entnimmt Töne und Melodien der Unendlichkeit und hebt sie in unsere Realität. Bei Literatur ist es ebenso. Sie entnimmt der Unendlichkeit Ideen und Satzphrasierungen und Wortklänge und hebt sie in unsere Realität. So manifestiert Literatur scheinbar Nichtwissbares. So ermöglicht Literatur Anverwandlungen, Metamorphosen dritten Grades. Neue Wirklichkeit entsteht. Und ja, man klingt sehr schnell durchgeknallt, wenn man Literatur und Kunst so versteht.

Möglichkeit der Unmöglichkeit

Albert Einstein streckte nun die Zunge raus. Paul Klee sagte: Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar. Karl Kraus sagte: Kunst ist, was Welt wird, nicht was Welt ist. Cormac McCarthy sagte: Das menschliche Bewusstsein und die Wirklichkeit sind nicht dasselbe. Milan Kundera sagte: Romane erhellen das Menschsein. Herta Müller sagte: Was ich nicht kapiere, durschauen die Sätze. Ilse Helbich sagte: Meine Sätze waren schon da, noch ehe ein anderer oder ich nach ihnen gegriffen hatte. Marcel Proust, der am Ende der Zeit immer das letzte Wort haben muss, sagte: Das wahre Leben, das endlich entdeckte und ans Licht gebrachte Leben, das folglich einzige und voll und ganz gelebte Leben ist die Literatur. So sei es. Und über alledem krabbeln Kafkas Käfer.

Wenn sich Literatur mit weniger begnügte, mit weniger als der Möglichkeit der Unmöglichkeit, sollte man sie nicht Literatur nennen. Es fehlte ihr das Essenzielle. Schließlich geht es in der Literatur um alles. Es geht darum, aufs Ganze, wider jede Vernunft immer wieder aufs Ganze zu gehen. Es geht darum, die Schattenwelt zu verlassen, raus aus der platonischen Höhle zu gelangen, raus ins Helle. (5.11.2023)

Thomas Sautner, "Nur zwei alte Männer". € 23,– / 176 Seiten. Picus, Wien 2023
Picus Verlag