Karoline Therese Marths Roman will der Leserschaft das Gefühl vermitteln, wie es ist, in der unteren Mittelschicht in einer Stadt der 90er groß zu werden.
Antonia Schneider

Es beginnt mit der Geburt einer "dicken menschlichen Trockenpflaume". Mit derart unverstellter Sprache zeichnet die 1995 geborene Karoline Therese Marth, die an der Universität für angewandte Kunst Sprachkunst studiert, in ihrem Debütroman das gelungene Bild einer jungen weiblichen Generation, die sich zwischen dem Versprechen von unendlicher individueller Freiheit und degradierenden Körperidealen der späten 1990er zurechtfinden muss.

"Hoffentlich bekommst du nicht so einen Fettarsch wie ich", sagt die Mutter zur jungen Kathlen und fängt damit früh an, den Körper der Tochter ins Zentrum der Bewertung zu rücken. Denn das Leben ist eben nicht "Motherload" oder "TestingCheatsEnabledTrue". Das bedeutet in der Die Sims-Sprache, unendlich viel Geld und Einfluss zu besitzen. Als Kind der 90er mögen einem diese Begriffe aus dem Computerspiel Die Sims gut bekannt sein.

Stundenlang konnte man darin Familien erstellen und sie in einer virtuellen Wunschwelt leben lassen – und dabei selbst in einer Wunschwelt versinken. Genau das ist auch der Konflikt, den Marth anhand ihrer Protagonistin Kathlen verhandelt: ein junger, weiblich sozialisier-ter Mensch, der sich schwertut, zwischen kindlicher Wunschwelt und den Regeln der Erwachsenenrealität zu unterscheiden. Und genau an der Schwelle der beiden Welten etwas Wunderbares für sich entdeckt: den Blick für die unscheinbaren Details. "Ich weiß, dass alle meine Mama gernhaben, aber ich weiß nicht, ob meine Mama mich gernhat." Mittels kurzer einprägsamer Sätze beginnt Marth eine Kinderstimme zu entwickeln, die nahegeht.

Es sind die großen Themen, die Kathlen beschäftigen: Liebe, Tod, der Glaube an Gott. Natürlich geht es in Marths Roman auch um die verschiedenen Generationen von weiblichen Figuren: Großmutter, Mutter, Tochter. Dazu kommen unstete Männerfiguren jeden Alters, die mit sich selbst heile Welt spielen: "Männer sind dazu da, die Mikrowelle zu bedienen, im Anzug auf der Couch zu liegen und Nur die Liebe zählt zu schauen. Papa weint oft, wenn Kai Pflaume spricht, und auf Beerdigungen. Papa lacht, wenn ich etwas falsch mache."

Es geht um Flucht in diesem Roman und darum, wie jede Generation auf ihre Art den Gesetzen und Grenzen ihrer Zeit zu entfliehen versucht. In Kathlens Generation sind das Spiele: Als Kind spielt sie Krieg, mit ihrer besten Freundin spielt sie Sex, als junger Teenager heile Welt in Die Sims. Später spielt sie mit Drogen, Typen und jungen Frauen: "Wir gehen weg, wir lachen und trinken, manchmal auch zu viel. Egal, ob ich mit Reva unterwegs bin oder mit Lena und den anderen, ich habe das Gefühl, ich würde das Ganze nicht verstehen. Als würden alle ein Spiel spielen, von dem ich nichts weiß, ein Geheimnis teilen, das ich nicht kenne."

Die Stimme der Kindheit

Mit zunehmendem Alter fällt es Kathlen schwer, zwischen Essstörungen, Angst, Selbstverletzung, finanzieller Abhängigkeit und Männern, die ihre Unsicherheit weglachen, nicht verlorenzugehen. Doch will Dotterland niemandem die Schuld dafür in die Schuhe schieben, sondern einer Leserschaft das Gefühl vermitteln, wie es ist, in der unteren Mittelschicht in einer Stadt der 90er groß zu werden.

Es sind Situationen, die einzeln geschildert kitschig und abgedroschen wirken könnten, im Kontext der Erzählung jedoch an Tiefe gewinnen. Mit Sätzen wie: "Es geht nicht um Sex oder Verliebtsein, es geht ums Gewinnen" oder "Nach ein paar Wochen verlasse ich ihn, er lacht nur" bringt Marth die Dinge auf den Punkt, ohne sie flach wirken zu lassen.

Und ihr gelingt es, die Stimme und Fantasie der Kindheit aufrechtzuerhalten, wobei sie Kathlen niemals einen Wahrheitsanspruch formulieren lässt: "Nur weil etwas gut klingt, muss es nicht wahr sein." Mit zunehmendem Alter der Protagonistin werden auch die Sätze manchmal länger, trotzdem verliert der Roman nichts an der Klarheit der kindlichen Sprache. Er bleibt im Arrangement der kurzen Szenen formal einfach gehalten und entfaltet genau in dieser Einfachheit Wirkung. Es ist eine Coming-of-Age-Story, in der man Alters- und Wohnräume durchquert, in denen sich Leben abspielen, die so alltäglich wie besonders sind. (Helene Proißl, 5.11.2023)

Karoline Therese Marth, "Dotterland". € 22,– / 120 Seiten. Droschl, Graz 2023
Droschl Verlag