Nada Chekh (*1996) ist eine österreichische Journalistin und Autorin, die sich mit Tabus und Potenzialen des interkulturellen Austauschs beschäftigt. Sie lebt in Wien.
Heribert Corn

Als Nada Chekh ihre eigene Geschichte aufschrieb, hatte sie das Gefühl, es handle sich um einen Roman, um Fiktion: eine junge Frau, die in einer muslimischen Community in Wien-Favoriten aufwächst und versucht, sich Freiräume zu schaffen. Mit älteren Männern im Internet flirten und später geheime Beziehungen führen oder in die Ukraine ausbüxen könnte noch nach einer unterhaltsamen Coming-of-Age-Story klingen, würde sie nicht vor dem Hintergrund rigider Regeln und permanenter Überwachung stehen. Selbstverletzung und Suizidgedanken gehörten zu Chekhs Aufwachsen genauso wie die Frage nach Zugehörigkeit und Selbstbestimmung.

In ihrem erzählenden Sachbuch Eine Blume ohne Wurzeln gibt die Tochter eines Palästinensers und einer Ägypterin nun Einblick in das Doppelleben, das sie als Mädchen und Jugendliche zu führen gezwungen war, und erzählt, wie es doch noch zu einer Versöhnung mit ihrer Familie kam.

STANDARD: Sie haben bereits in Ihren Artikeln für "Biber" persönlich Erlebtes verarbeitet. Ein Buch ist noch einmal ein anderes Kaliber. Warum haben Sie sich dazu entschieden, so viel über Ihr Aufwachsen preiszugeben?

Chekh: Durch meine journalistische Arbeit hatte ich schon den Stempel der "kritischen Muslima", des "Enfant terrible" aus der muslimischen Community, weil ich gewisse Dinge nicht verharmlose. Das Buch soll beleuchten, wie ich zu meinen Positionen zu Selbstbestimmung, Islam und Feminismus gekommen bin, denn das hat nun einmal mit meiner eigenen Geschichte zu tun. Der Schreibprozess hat mir geholfen, mich offenen Fragen und Traumata zu stellen.

STANDARD: Sie haben schon in Ihrer Kindheit gespürt, dass Sie als Mädchen anders behandelt werden – wie ein zwar schöne, beschützenswerte Sache, aber eben eine Sache. Wodurch ist Ihnen bewusst geworden, dass da etwas falsch läuft?

Chekh: Ich habe das früh begriffen, weil ich Geschwister habe. Meine älteste Schwester ist zwölf Jahre älter als ich. Ich konnte mir also anhand ihres Aufwachsens anschauen, was mir später blühen wird. Während meine Schulkolleginnen mit zunehmendem Alter immer mehr Freiheiten bekamen, wurden wir immer unfreier. Das hat eine extreme Abwehrreaktion in mir erzeugt. Als ich zum Beispiel meine Periode zum ersten Mal bekommen habe, musste ich plötzlich statt Bikinis Badeanzüge tragen, damit mehr Haut bedeckt war. In dieser kleinen Veränderung spürte ich erstmals eine merkwürdige Sexualisierung meines Körpers und seine langsame Verwandlung in ein großes Tabu.

STANDARD: Wie viele der Dinge, die Ihnen vermittelt wurden, haben explizit mit dem Islam zu tun, wie viele sind gewissermaßen "einfach patriarchale" oder konservative Erziehung?

Chekh: Allen drei monotheistischen Religionen unterliegt eine patriarchale Familienstruktur. Die Frau als Mutter und als Hüterin des Haushalts. Das ist jetzt nichts primär Islamisches, auch in Gesprächen mit jüdischen Freundinnen und Freunden sind sehr viele Ähnlichkeiten spürbar. Oder bei Leuten vom Balkan – unabhängig davon, ob das jetzt Muslime aus Bosnien sind oder Serbisch-Orthodoxe. Generell existieren in migrantischen Communitys strenge Auflagen, was Jungfräulichkeit bis zur Ehe betrifft, was die Ehre der Familie betrifft. Das Spezifikum vom Islam ist wahrscheinlich, dass die Identifikationsrate im Alltag höher ist, weil dir der Koran quasi alle Lebensregeln liefert, um in den Himmel zu kommen. Er hat auch nicht dieselbe Säkularisierung durchgemacht wie das Christentum. Das Buch sollte aber keine Streitschrift gegen den Islam werden, weil mich die Leute ohnehin schon als Islamhasserin begreifen, was übrigens ein Blödsinn ist.

STANDARD: Sie beschreiben ein permanentes Eingesperrtsein und Kontrolliertwerden.

Chekh: Man wird zur Abhängigkeit von den Eltern, von der Familie erzogen. Ich hatte Auseinandersetzungen, das kann man sich gar nicht vorstellen. Nur weil ich neben der Uni arbeiten wollte, was doch völlig normal ist. Die Formel aus "Hast du eine finanzielle Absicherung" und "Kannst du irgendwo sein, wo du in Sicherheit bist" klingt simpel, ist aber unfassbar schwierig umzusetzen, zumal in vielen Familien physische Gewalt ein riesengroßes Problem ist. "Befreiungskampf" klingt heroisch und toll, aber ich war in dieser Zeit unglaublich einsam, und ich verstehe, wenn viele junge Frauen irgendwann einfach aufhören zu rebellieren.

STANDARD: Kann man, was man während seines Aufwachsens gelernt hat, je ganz ablegen? Gibt es etwas, das Sie in Ihr neues Leben mitgenommen haben?

Chekh: Skurrilerweise bin ich von meinen Geschwistern diejenige, die am frühesten geheiratet hat. In gewisser Weise lebe ich also sehr konservativ. Mein Mann ist Russe, ich habe seinen Namen angenommen. "Nada Chekh" fand ich gut: ein ethnisch ambiger Name, bei dem man nicht so genau weiß, wo die Person herkommt. Das war für mich quasi der letzte Befreiungsschlag von meiner Familie, denn für arabische Verhältnisse ist es sehr untypisch, den Namen des Vaters abzulegen.

STANDARD: Apropos Herkunft: Ihr Buch trägt ja den Titel "Eine Blume ohne Wurzeln". Warum, denken Sie, ist die Frage nach den eigenen Wurzeln aktuell so wichtig, wenn es eigentlich doch auch sehr viele andere Kriterien gäbe, über die man sich identifizieren kann?

Chekh: Diversity ist gerade in aller Munde, sei es in der Popkultur oder in der Kunstbubble, in der ich mich viel bewege. Dort lautet das Motto, dass jede und jeder stolz auf seine Wurzeln sein soll. Da habe ich gemerkt, dass ich da ganz anders ticke, mich nicht so stark mit meiner Hautfarbe oder mit meinem vermeintlichen Ausländischsein identifiziere und das eher etwas ist, das mir von außen auferlegt wird. Und zwar nicht nur von Autochthonen, die manchmal unsensibel oder auch ein bisschen rassistisch sind, sondern auch in diesen Kreisen selbst, wo es immer wieder zu Diskussionen und Exklusionen kam, zum Beispiel, weil ich mich nicht ohne weiteres als Person of Color bezeichnen würde.

STANDARD: Halten Sie diesen Diskurs für zu wenig ausdifferenziert?

Chekh: Ja. Gerade bei jenen, die sich als besonders tolerant empfinden, gibt es sehr wenig Verständnis für andere Positionen, obwohl wir auf derselben Seite des politischen Spektrums, nämlich links, stehen. Klassisches Ding: Kopftuchfeministinnen versus Leute wie mich. Ich sehe es schon als Versäumnis der Linken, eine Abwehrhaltung gegen Menschen zu haben, die Probleme in der muslimischen Community ansprechen wollen. (Amira Ben Saoud, 4.11.2023)

Nada Chekh, "Eine Blume ohne Wurzeln". € 18,– / 224 Seiten. Haymon, Innsbruck 2023
Haymon Verlag