Wien Modern
Klavierkollektiv im Wiener Konzerthaus.
Markus Sepperer

Wien – Es ist nicht so, dass das Festival Wien Modern nicht auch ehemals Werke angesetzt hat, welche das Publikum im Sinne einer begehbaren Klangwelt auf Wanderschaft schickten. 2022 war es auch schon Komponist Georg Friedrich Haas’, der mit ceremony II die Räume der Gemäldegalerie des Kunsthistorischen Museums raffiniert beschallte und die ausgestellten Exponate akustisch übermalte.

Mit seiner Komposition 11.000 Saiten beschert Haas nun – konzentriert auf den großen Saal des Wiener Konzerthauses – ebenfalls kontemplativ-intensive Eindrücke. Diesmal allerdings befindet sich das Wien-Modern-Publikum gleichsam im Instrument. Gleich 50 zumeist an den Raumrändern verteilte Klaviere verschmelzen mit dem Klangforum Wien zu einem utopischen Rieseninstrument, das die Hörerschaft regelrecht umhüllt.

Klaviere in China

Auch die Genese des Stücks ist interessant: Klangforum-Intendant Peter Paul Kainrath besuchte vor Jahren eine Klavierfabrik in China. Ebendort, in Ningbo, wird bei der Firma Hailun ein Klavier erst aus der Fabrik entlassen, wenn es 24 Stunden durchgängig gespielt wurde. So erlebte Kainrath den Klang von 100 gleichzeitig gespielten Klavieren. Komponist Haas ließ sich also zur künstlerischen Verarbeitung dieses Riesensettings animieren.

Sein Klangraum wird zu einem akustischen Energiefeld, das die Eingehüllten emotional unmittelbar erfasst. Etwas mehr als 60 Minuten werden atmosphärisch dichte Strukturen durch den Raum gesendet, die von filigransten Einzelstatements bis hin zu kollektiven clusterartigen Glissandi reichen. Zwischen dieser Entfesselung des Klanges, der durch minimale Abweichungen von der temperierten Stimmung eine ganz spezielle Färbung erfährt, ergeben sich immer wieder kleine Inseln des Innehaltens.

Eine Qualität bei Haas trotz aller Komplexität: Das Sinnliche des Klanges animiert unentwegt zu Assoziationen. Geht es um unendliche Weite des Kosmos? Wird maschinelle Urbanität evoziert? Der auf sich selbst zurückgeworfene Hörer ist frei zu entscheiden. (Ljubisa Tosic, 3.11.2023)