Auch Weltstars wie Selena Gomez, Kim Kardashian oder Justin Bieber werden auf Tiktok mittlerweile instrumentalisiert und in Bezug auf den Krieg in Nahost entweder Israel oder Palästina zugerechnet. Aber in manchen Videos wird auch bewusst mit Angst gearbeitet. Würden Marken wie McDonald’s, Starbucks oder Coca-Cola nicht boykottiert, so die Erzählung, hätte man sprichwörtlich Blut an den Händen. 
Auch Weltstars wie Selena Gomez, Kim Kardashian oder Justin Bieber werden auf Tiktok mittlerweile instrumentalisiert und in Bezug auf den Krieg in Nahost entweder Israel oder Palästina zugerechnet. Aber in manchen Videos wird auch bewusst mit Angst gearbeitet. Würden Marken wie McDonald’s, Starbucks oder Coca-Cola nicht boykottiert, so die Erzählung, hätte man sprichwörtlich Blut an den Händen.
Tiktok-Screenshots

Die Herrengasse in Wien ist eng und gerade, und so sind die Parolen schon von weitem zu hören. "Zi-o-nis-mus ist Im-peri-alis-mus!" Es ist ein Freitag im späten Oktober, und vor dem Innenministerium haben sich knapp 130 Menschen versammelt. Im Wind wehen Palästina-Flaggen, in der Menge verteilen Frauen Infozettel, vorne übersteuert das Mikrofon, wenn jemand zu energisch hineinspricht. Offiziell ist das hier weder eine Pro-Palästina- noch eine Anti-Israel-Demo, obwohl die Schilder in den Händen der Teilnehmer das vermuten lassen würden. Es ist quasi eine Meta-Demo: Es wird gegen das Verbot von anderen Pro-Palästina-Demos protestiert. Und das vergleichsweise brav.

Anfang Oktober war alles noch ein bisschen weniger brav. Am 7. Oktober, dem Tag des Terroranschlags der Hamas mit 1400 Toten, zog eine Demo junger Menschen mit Palästina-Flaggen über die Mariahilfer Straße zum Kanzleramt, wo ausgelassen getanzt wurde. Vier Tage versammelten sich trotz Verbots 150 wieder vorwiegend junge Menschen auf dem Stephansplatz und skandierten Parolen, darunter antisemitische. Die Polizei löste die Demo auf, räumte den Platz aber "aus Verhältnismäßigkeit" nicht, wie es später hieß.

"Ideologisches Dauerfeuerwerk"

In Österreich blieben die Demos bislang eher klein und friedlich. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind laut Beobachtern eine Mischung aus Akteuren, die schon lange bei dem Thema aktiv sind – vor allem Palästina-Unterstützungskomitees und die BDS-Bewegung, die Boykottmaßnahmen gegen Israel fordert –, heimischen Linken und jungem migrantischen Publikum.

Aber auch wenn diese immer wieder betonen, für ein freies Palästina und nicht für die Hamas zu demonstrieren, stellt sich die Frage, welchen Einfluss der Konflikt auf diese Generation haben wird. Wird der Krieg diese jungen Menschen prägen? Noch weiter von der Mehrheitsgesellschaft entfremden? Wirft das alles – im schlimmsten Fall – die Extremismusprävention um Jahre zurück?

Um den Boykott von Produkten noch stärker ideologisch aufzuladen, werden in Videos auf Tiktok sogar Becher von Starbucks oder Burger von McDonalds in eine Israelfahne gewickelt.
Um den Boykott von Produkten noch stärker ideologisch aufzuladen, werden in Videos auf Tiktok sogar Becher von Starbucks oder Burger von McDonalds in eine Israelfahne gewickelt.
Tiktok-Screenshot

Ein Gespräch mit Moussa Al-Hassan Diaw kann dieser Tage ziemlich entmutigend sein. "Die Stimmung ist gekippt – und zwar ins Abstruse und Gefährliche." Diaw ist Islamforscher und gründete 2015 den Verein Derad mit. Derad betreut gewaltbereite Jihadisten in heimischen Gefängnissen, wird aber auch von Schulen gebucht, um über Extremismus, Antisemitismus und Verschwörungstheorien aufzuklären. All das habe es in den letzten Jahren immer gegeben, sagt Diaw. Aber der Krieg in Nahost habe eine völlig andere Situation geschaffen.

"Antisemitische Aussagen gehen vielen Muslimen, aber auch in manchen linken Gruppen immer unverblümter über die Lippen", sagt Diaw. Selbst jungen Menschen, die vor dem Angriff der Hamas-Terroristen noch nie etwas vom Nahostkonflikt gehört haben. Das sei beunruhigend. Mit rationalen Argumenten käme man im Zwiegespräch oft nicht mehr weiter. Viele der Jüngeren seien längst in eine mediale Parallelwelt abgedriftet. Da zähle vor allem, was auf Tiktok oder Telegram geschrieben, gesagt und geteilt werde. "Dieses ideologische Dauerfeuerwerk auf Social Media reicht so weit, dass Jugendliche den Überfall der Hamas auf Israel für etwas Erfundenes halten."

Hinein in die Echokammer

Das überrascht nicht. Wer sich auf Tiktok über die Lage in Nahost informiert, kann durch den Algorithmus der Plattform flott in einer Blase aus tragischen Kriegsbildern aus Gaza und beklemmenden Propagandaclips mit antijüdischen Narrativen stecken bleiben. Der Algorithmus der App richtet sich danach, wie lange wir Videos ansehen und wie schnell wir sie wegwischen. Wenn wir also ein besonderes Interesse für Pro-Palästina-Demos hegen, wird davon immer mehr gezeigt. Aber dabei bleibt es oft nicht.

Anders als Facebook, Twitter oder Instagram, die zumindest in Ansätzen ein Community-Management haben, herrscht beim chinesischen Tiktok Anarchie. Dort kann man auch Videos finden, in denen ein orthodoxer Jude einen Palästinenser im Jahr 1948 – dem Gründungsjahr Israels – beginnt zu würgen, bis dieser sich schließlich 2023 befreit und den Juden tötet. Es zählt rund 160.000 Likes, mehr als 9000-mal wurde es geteilt. Gerade wegen solcher Kurzvideos hält der österreichische Staatsschutz Tiktok für eine der derzeit gefährlichsten Radikalisierungsmaschinen.

Auch Boykottaufrufe gegen internationale Unternehmen wie McDonald’s, das der israelischen Armee öffentlichkeitswirksam kostenlose Mahlzeiten angeboten hatte, sind auf der App groß. In Großbritannien ließen sich Aktivisten dabei filmen, wie sie kistenweise Ratten und Mäuse in einer Filiale aussetzten. Ein globaler Konflikt, der auch auf einer Social-Media-Plattform ausgetragen wird.

Ein gefährlicher "Nahosttrip"

Solche Videos haben durchaus einen großen Einfluss auf die Jugendlichen. "Manche sind gerade dabei, ihre antisemitischen Vorurteile zu entwickeln", sagt Diaw. Bei den Älteren, ob in muslimischen oder in linken Milieus, sei das bereits fortgeschrittener: "Die erkennen ihre antijüdischen Aussagen längst nicht mehr als solche." In Kombination mit der aufgeheizten Grundstimmung könne das dazu führen, dass es irgendwann nicht mehr bei verbalen Übergriffen und Sachbeschädigung gegen Juden bleibe, sondern es auch in persönliche Angriffe münde.

Diaw, der zahlreiche islamistischen Extremisten in Österreich kennt, hält es nicht für ausgeschlossen, dass die toxische Atmosphäre Jugendliche in die Fänge von Jihadisten treiben könnte. "Es muss nicht sein, aber es reicht oft, in einem einschlägigen Telegramkanal der Terrormiliz aktiv zu sein, in dem die Lage in Gaza ebenso vorkommt", sagt er. "Unsere Klienten im Gefängnis sind alle auf dem Nahosttrip."

Auf Tiktok halten sich radikale Salafisten mit Gewaltansagen kaum noch zurück. Kürzlich trat etwa der deutsche Prediger Pierre Vogel mit Arafat Abou-Chaker, vielen Jugendlichen als Ex-Manager des Deutschrappers Bushido bekannt, auf. Abou-Chaker, selbst Palästinenser, sagte dann irgendwann: "Für mich ist Adolf Hitler besser als Netanjahu (Israels Ministerpräsident, Anm.), der hat sie wenigstens sofort umgebracht." Vogel nickte - und widersprach nicht.

Die antisemitischen Sujets (Bild rechts) auf Tiktok sind in ihrer Machart teilweise nicht neu. Aber passend zu ihrem Ausspielkanal modernisiert.
Die antisemitischen Sujets (Bild rechts) auf Tiktok sind in ihrer Machart teilweise nicht neu. Aber passend zu ihrem Ausspielkanal modernisiert.
Tiktok-Screenshot

Bei den Sicherheitsbehörden gibt es die Sorge, dass Radikalisierungskarrieren, die mit solchen Videos beginnen, irgendwann in Gewalt enden könnten. Bis hin zum Terroranschlag. Ob der Konflikt wirklich mehr radikale Jihadisten hervorbringt, weiß aktuell niemand. Das Problem ist aber, dass durch die Entwicklungen im globalen Terrorismus der Sprung vom wütenden Jugendlichen auf der Straße zum Terroristen kleiner geworden ist.

"Wir sehen seit Jahren einen Trend zum selbstradikalisierten Einzeltäter, mit Low-Level-Szenarien mit vergleichsweise wenig Todesopfern", sagt Terrorismusexperte und Buchautor (Trügerische Ruhe über den Anschlag von Wien) Nicolas Stockhammer. Aus Sicht des Terroristen ergebe das Sinn: In der Logik der Aufmerksamkeitsökonomie bekomme man für eine Tat mit drei Toten ähnliche Aufmerksamkeit wie für einen Sprengstoffanschlag mit mehr Opfern. "Die aktuelle Lage erhöht die Terrorgefahr in ganz Europa, da ist Österreich keine Ausnahme", sagt Stockhammer. Es sei zu beobachten, dass potenzielle Täter immer jünger würden. "Wir reden hier teilweise von 13- bis 15-Jährigen, die sich im virtuellen Raum radikalisieren."

Alkohol und Imponiergehabe

Man muss auch dazusagen, dass nicht alle Stellen für Extremismuspräventionen, mit denen man – auch "off the record" – spricht, die Lage so pessimistisch einschätzen wie Derad. Es sei einfach noch zu früh, um langfristige Auswirkungen bewerten zu können. Und öffentliche Aufmerksamkeit und Sorge kommt eben auch in Wellen: Manch eine Beratungsstelle hat schon mehrere mitgemacht. Aber die Analyse, dass es ernst ist, zieht sich durch. Dass Lehrer einfach mal unverblümt als "Jude" beschimpft werden, solche Fälle habe es früher nicht gegeben.

"Immer, wenn Themen gesellschaftspolitisch und medial sehr präsent sind, haben wir mehr Anrufe", sagt Verena Fabris, Leiterin der Beratungsstelle Extremismus – einer Einrichtung, bei der sich von besorgten Eltern bis Lehrpersonal jeder melden kann, der mit Extremismus konfrontiert ist. Das sei 2015 nach den IS-Anschlägen in Frankreich und zuletzt bei den Anti-Corona-Maßnahmen-Demonstrationen so gewesen. Und seit dem 7. Oktober eben auch zum Thema Nahostkonflikt.

Als Erwachsene agiere man immer auch als Role-Model für die Jugendlichen, sagt Fabris. "Wenn ich in meinen Haltungen klar bin, wenn ich meinem Gegenüber mit Wertschätzung begegne, dann ist schon viel gewonnen." Es geht eben noch immer um Jugendliche, also Menschen in der Entwicklung. Jene 17-Jährige, die verdächtigt wird, die Israelflagge des Wiener Stadttempels mit anderen heruntergerissen zu haben, lernte den Rest der Gruppe laut eigenen Angaben erst an dem Abend kennen und konsumierte vor der Tat viel Alkohol. Da vermischt sich eine grundsätzliche Offenheit für Antisemitismus mit jugendlichem Imponiergehabe. Es geht nicht darum, solche Taten zu verharmlosen. Aber manche Jugendliche sind nicht verloren, sondern lassen sich wieder einfangen.

Workshops in Schulen gelten prinzipiell als guter Ansatz, einer drohenden Radikalisierung entgegenzuwirken. So ein Workshop wird von geschultem Personal durchgeführt, bei Derad dauert er zwei bis vier Stunden. Besonders wichtig sei dabei, eine offene Gesprächsatmosphäre zu schaffen. Ich muss Vorurteile auch aussprechen dürfen, eben damit darüber geredet werden kann. Der aktuelle Konflikt macht das alles nicht einfacher. "Generell macht es sich bemerkbar, ob es in der Schule oder einer Jugendeinrichtung ein Klima der Anerkennung und des Respektes gibt", sagt Fabris. Man müsse die Jugendlichen in ihren Sorgen und ihrem Ungerechtigkeitsempfinden ernst nehmen, aber auch klare Grenzen setzen. "Prävention muss früher und viel allgemeiner ansetzen, nicht erst, wenn es schon brennt." (Jan Michael Marchart, Jonas Vogt, 4.11.2023)