Judith von Shimoda.
Okichi (Anna Davidson) schließt die Augen vor der Außenwelt, die aus unguten Typen besteht. Hin und wieder trinkt sie sich ihre Umwelt aber auch mit Sake schön und erträglich.
Armin Bardel

Auf einem hunderte Tonnen schweren, zerknitterten, fast fußballfeldgroßen Papierbogen machte die Geisha Cio-Cio-San in den letzten zwei Sommern am Bodensee so einiges durch. Nach kurzem Eheglück endete der Kontakt mit einem Marineoffizier der USA für die vereinsamte und verarmte Mutter im Suizid. 350.000 Besucherinnen und Besucher litten bei den Bregenzer Festspielen bei Madama Butterfly mit, für deren Seelenleid Puccini herzzerreißend schöne Klänge fand.

Parallel dazu machte Mitte August auf der Werkstattbühne eine andere japanische Geisha ebenfalls Bekanntschaft mit einem potenten amerikanischen Eroberer. Um anno 1857 das drohende Bombardement ihrer Heimatstadt Shimoda abzuwenden, erklärte sich Okichi widerwillig bereit, den erkrankten US-Generalkonsul Harris zu pflegen. Als Dank für ihre erfolgreichen Dienste wurde sie danach als "Ausländerhure" beschimpft und endete als Alkoholikerin. Einige Hundert Besucher wurden in Bregenz zu Okichis Niedergang in der Oper Die Judith von Shimoda (Libretto: Juan Lucas nach Yamamoto Yūzō, Bertolt Brecht und Hella Wuolijoki) mit den Klängen Fabián Panisellos konfrontiert.

Saufendes Wrack

Zweieinhalb Monate nach der Bregenzer Uraufführung trinkt sich diese Madama Butterfly Nummer zwei nun ihre Umwelt im Wiener Theater Akzent mit Sake erträglich. Die auf einem Regiekonzept von Philipp M. Krenn basierende Inszenierung von Carmen C. Kruse zeigt zeitgenössisch Gekleidete in einem verspiegelt-abstrakten Ambiente und wirkt so wie ein retroaffines Reenactment einer avantgardistischen Inszenierung aus den 1970ern.

Okichi (höhensicher: Anna Davidson) schaut auch als saufendes Wrack noch so aus wie eine Verkäuferin einer Luxusboutique in der Zürcher Bahnhofsstraße. Ihr Verlobter Tsurumatsu (poetisch: Martin Lechleitner) trägt einen Pullover, der eine Brücke von Olaf Schubert zu Dries Van Noten schlägt (Bühne und Kostüme: Susanne Brendel). Durch den Verzicht auf historische und kulturelle Einordnung verliert das Leid der Hauptfigur leider an anschaulicher Glaubwürdigkeit.

Zermalmung des Menschen

An der wäre Brecht wohl gelegen gewesen: In der nachgelassenen, um eine kommentierende Ebene erweiterten Bearbeitung eines japanischen Schauspiels wollte der deutsche Klassenkämpfer das Schicksal einer "japanischen Judith" (siehe: Altes Testament, Judith und Holofernes) lehrstückhaft zu Ende erzählen; und zwar zu einem Ende, welches eine Woyzeck-hafte Zermalmung des minder bemittelten Menschen in den Mühlen gesellschaftlicher Doppelmoral und nationaler Wirtschaftsinteressen beschreibt.

Die Klanglandschaften Panisellos wirken mit ihrem Faible für Haken schlagende Gesangsrouten in extremen Höhen dabei fallweise wie eine Parodie Neuer Musik. Gut, dass der Komponist für das Orchester einen agil-grazilen Bewegungsmodus und eine gedimmte Dynamik bevorzugt und das Libretto zügig vertont. Jubel für den Leiter der Neuen Oper Wien, Walter Kobéra, das Amadeus Ensemble Wien und alle Mitwirkenden. (Stefan Ender, 4.11.2023)