Justine Triet
"Vor Gericht räumt die Gesellschaft ihr Zimmer auf" sagt die französische Regisseurin Justine Triet.
Taylor Jewell/Invision/AP

Justine Triet wirkt im Interview etwas erschöpft. Kein Wunder, ihr Film Anatomie eines Falls, der soeben in den heimischen Kinos angelaufen ist, hat seit seinem Erfolg auf dem Festival von Cannes eine Riesenkarriere hingelegt. Sogar im Oscarrennen ist er angekommen. Das heißt: viele Reisen, viel Promotion. Über ihren Film, seine Vielschichtigkeit und Hauptdarstellerin Sandra Hüller spricht die Französin dennoch voller Verve.

STANDARD: Wie fühlte es sich an, als Jane Fonda Ihnen in Cannes die Goldene Palme überreicht hat?

Triet: Es war unfassbar. Jane Fonda hat so viele verschiedene Epochen durchlebt, hat sich vielseitig engagiert: für Frauen, gegen Vietnam und vieles mehr. Die Freude, die ich in diesem Moment gespürt habe, war extrem ergreifend und eigentlich unaussprechlich.

Triet Fonda Cannes
Arm in Arm: Jane Fonda mit Justine Triet diesen Mai in Cannes, wo Triet die Goldene Palme gewann.
REUTERS

STANDARD: Ihr siebenter Film hat Sie außerhalb Frankreichs berühmt gemacht. Was hat sich nun verändert?

Triet: Ich war in meinem Leben nie derart exponiert. Es ist sehr freudvoll und zugleich intensiv. Ich hatte bisher noch keine Zeit, wieder zu arbeiten, weil ich ununterbrochen Promotion für den Film mache – aber ich mache das gern, denn durch das viele Reisen bekomme ich mit, wie der Film von Menschen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen gesehen wird. Was mich erstaunt und berührt hat, ist, dass sich viele in dem Paar Sandra und Samuel wiederfinden.

STANDARD: Dieses Paar ist wirklich speziell – vor allem der Streit in der Mitte des Filmes ist großartig inszeniert. Wie haben Sie das gemacht?

Triet: Es war sehr schwierig, die Streitszene zu schreiben. Es gibt sicher hundert Versionen davon, weil ich unbedingt Klischees vermeiden und einen Weg finden wollte, dass man Samuel und Sandra nicht hasst. Es war mir auch wichtig, dass zwischen ihnen noch etwas Liebe und Interesse füreinander erhalten bleibt. Für mich ist sie Szene eine kleine Vorschau auf das, was vor Gericht passieren wird. Wie ein kleiner Prozess vor dem großen.

STANDARD: Inwiefern?

Triet: In der Streitszene geht es weniger um den Kampf zwischen Personen als zwischen Ideen. Eine davon ist die Obsession mit Zeit: Was ist deine Zeit, was ist meine? "Du hast mir zehn Jahre meines Lebens gestohlen", hört man oft von Ex-Partnern. Das ist ein universelles Thema. Ausgehend davon haben wir den Fokus geöffnet: auf Sexualität, literarisches Arbeiten und den Vorwurf Samuels, dass Sandra ihm nicht nur Zeit, sondern auch Ideen für ein Buch geklaut habe.

STANDARD: Sandra Hüller ist großartig in ihrer Rolle als Schriftstellerin Sandra, gerade weil sie auch hart und egoistisch wirkt. Was hat Sie an dieser Persönlichkeit angesprochen?

Triet: Ich finde Sandra überhaupt nicht egoistisch. Sie macht einfach das, was die Männer immer schon getan haben: Sie nimmt sich ihren Platz, ohne um Erlaubnis zu fragen. Aber sie ist kein Monster, das denkt man nur, weil sie eine Frau ist. Sie ist ambitioniert und entschieden. Sandra ist vielleicht nicht die beste Mutter der Welt. Sie liebt ihren Sohn zwar, aber widmet ihr Leben nicht ausschließlich der Mutterrolle. Das belastet sie später sehr. Sandra ist außerdem nicht an Verführung interessiert: Sie verführt weder das Publikum noch die Jury, eigentlich niemanden. Sie ist einfach sie selbst, sie sagt, was sie denkt, sie möchte nicht gefallen. Das ist sehr selten, und das hat die Rolle Sandra mit der Schauspielerin gemeinsam.

Sandra Hüller Anatomie eines Falls
Die Schriftstellerin Sandra (Sandra Hüller) wird verdächtigt, ihren Mann ermordet zu haben. Vor Gericht wirkt sie wie eine moderne Femme fatale, bzw. wie deren Antithese.
Viennale

STANDARD: Ich musste an Marlene Dietrich in Billy Wilders "Zeugin der Anklage" denken. Ist Sandra für Sie eine moderne Femme fatale?

Triet: Ich mag den Begriff Femme fatale nicht besonders. Für mich ist sie das Gegenteil. Marlene Dietrich ist in Zeugin der Anklage sehr auf ihr Äußeres reduziert. Sie ist auch eine Form des Klischees, das man danach sehr ausgebeutet hat: mysteriöse, lügende, doppelgesichtige Frauen. Sandra verkörpert das anders. Wir haben uns gegen Make-up in den Gerichtsszenen entschieden, weil wir ihr keine Maske schminken wollten. Sie ist Ausländerin, spricht mehrere Sprachen. Wir wollten ihr also etwas "Nacktheit" erhalten.

STANDARD: Gerichtsfilme erleben gerade ein Revival, gerade im französischen Kino. Was hat Sie an dem Genre interessiert?

Triet: Das stimmt. Das Gericht ist ein faszinierender Ort, weil dort die Gesellschaft zusammenkommt, um zu diskutieren, auch über Moral. Menschen versuchen dort, das auszudrücken, was unaussprechbar und unerklärlich ist. Es ist der Ort, an dem die Gesellschaft ihr Zimmer aufräumt. Das Genre wiederum verspricht, die Wirklichkeit ans Licht zu bringen, überraschende Twists einzubauen. Ich benutze es aber, um das Gegenteil zu machen. Mein Film zeigt, dass die Realität im Gericht nicht zum Vorschein kommt, weil es ein fiktionaler Ort ist, an dem man eine Geschichte erzählt, die glaubhaft ist, um zu gewinnen.

STANDARD: Ihr Film zeigt Perspektivenvielfalt: Sie nehmen die Perspektive des blinden Kindes Daniel ein, die des Hundes. Weshalb?

Triet: Je nachdem, wessen Perspektive man folgt, zeigt sich die Wahrheit auf andere Art und Weise. Der Hund kennt wohl als Einziger die Wahrheit, er kann aber nicht sprechen. Und da ist die Frage, wie die Wahrheit in der Familie gesucht wird, wie sie zirkuliert. Das Kind hat den Tathergang verpasst, es muss also mit dem Zweifel leben lernen, wie das Publikum auch.

Anatomie eines Falls (OmU Trailer)
PLAION PICTURES

STANDARD: Milo Graner spielt Daniel grandios – ist er tatsächlich blind?

Triet: Nein, wir haben ein Riesencasting mit blinden Kindern gemacht, und das hat nicht geklappt. Deshalb haben wir es geöffnet und Daniel gefunden. Wir haben uns dann für ganz subtile Kontaktlinsen entschieden, damit seine Blindheit nicht aufgesetzt ist. Ich habe vorher nie so intensiv mit einem Kind gearbeitet, und es war eine vollkommen fabelhafte Erfahrung. (INTERVIEW: Valerie Dirk, 4.11.2023)