Das Kokaingeschäft ist mittlerweile eine Art "freier Markt" – mit immer kreativeren Schmuggelmethoden.
IMAGO/Pond5 Images

Eine Explosion lüftete ein Geheimnis in der ländlichen Idylle von Poortvliet. Das kleine Dorf in den südwestlichen Niederlanden zählt gerade einmal 2.000 Einwohner. Irgendwo zwischen einer Windmühle, breiten Radwegen und einer Kirche ging plötzlich eine Scheune in Flammen auf. Dutzende Schafe und Lämmer starben.

Der toxische Gestank, das Ausmaß des Brandes, die chemischen Überreste – für die Ermittlerinnen und Ermittler war rasch klar: "Hey, das ist kein normaler Scheunenbrand." So erzählt es der Polizist Freek Pecht. Spätestens als ein Kran einen großen Speicher in den verkohlten Überresten barg, wurde dem Ermittler bewusst: Das hier war ein Labor, in dem Kokain produziert wurde.

Kokain und chemische Vorprodukte der Droge überschwemmen seit einigen Jahren Europas Schwarzmärkte. Immer wieder berichten Behörden von Rekordfunden im Ausmaß von dutzenden Tonnen der Droge, etwa an Häfen in den Niederlanden, Deutschland oder Spanien. Das Kokain wird immer seltener mit anderen Stoffen gestreckt – und häufig sogar in europäischen Ländern produziert.

Aber warum ist das so? Einen Einblick liefern die Narco-Files, ein Projekt des Organized Crime and Corruption Reporting Project (OCCRP), an dem auch der STANDARD mitgearbeitet hat. In Österreich recherchierten auch Paper Trail Media, das "Profil" und der Podcast "Die Dunkelkammer". Es basiert auf einem Datenleck bei der kolumbianischen Generalstaatsanwaltschaft – und eröffnet bislang einmalige Einblicke in die Welt des internationalen Drogenhandels.

Drogenköche in Europa

Einst wäre es nahezu undenkbar gewesen, dass Kokain innerhalb von Europa verarbeitet wird. Die Kokapflanze, die im Amazonasgebiet wächst, muss erst mehrere chemische Prozesse durchlaufen, bis sie zu der pulverförmigen Droge wird, die Konsumierende schnupfen. Noch vor wenigen Jahren führten Drogenbanden den gesamten Produktionsprozess in klandestinen Labors in den Dschungeln Südamerikas durch. Doch nun verlagern sich Teile davon immer mehr nach Europa.

Das liegt unter anderem daran, dass Vorstufen der Droge günstiger sind als fertiggestelltes Kokain – wird eine Ladung also beschlagnahmt, fallen die Verluste für die Banden geringer aus. Und: Einige chemische Stoffe, die für die Produktion notwendig sind, wie etwa Kaliumpermanganat, sind in Europa günstiger und leichter zu erwerben.

Gleichzeitig haben sich die Schmuggelmethoden weiterentwickelt. So verstecken Banden Koks zum Beispiel als Zwischenprodukt in legalen Exportwaren, etwa in Kleidung, Fruchtsaft, Leder, Gummi oder Wolle – oder lösen es in Plastik oder Papier auf. Das tat offenbar auch die Bande, die das Labor in Poortvliet betrieb.

Auch in Österreich

Der Aufstieg des Kokainhandels mache auch in Österreich nicht Halt, sagt Daniel Lichtenegger, Leiter des Suchtmittelbüros im Bundeskriminalamt. Hierzulande seien "Aufgriffe mit mehreren Hunderten Kilogramm pro Lieferung kein Einzelfall", erzählt er. Allerdings gilt Österreich auch im Drogengeschäft als ein klassisches Transitland: Oft sei das Kokain nicht für heimische Käuferinnen und Käufer bestimmt, sondern werden mittels Lkws aus den Niederlanden, Deutschland und anderen Ländern etwa nach Südosteuropa weitertransportiert. Eine starke Zunahme der Nachfrage in Österreich sei derzeit nicht zu verzeichnen.

Den Schmuggel würden hierzulande vorwiegend Banden aus dem Westbalkan beherrschen, teils gebe es auch Aufgriffe von Gruppierungen aus anderen Gebieten. Aktuell läuft ein Prozess gegen einen bereits vorbestraften 35-jährigen Serben vor dem Landesgericht Wien, der eine führende Rolle in einem mafiösen serbischen Clan innegehabt haben soll. Er habe, so der Vorwurf, gemeinsam mit Komplizen in zumindest 113 Fällen 450 Kilogramm Kokain und Heroin nach Österreich geschmuggelt und dann vertrieben. Derzeit seien noch zumindest zwei Verhandlungstermine geplant, sagt eine Sprecherin des Landesgerichts.

Immer öfter beschlagnahmen Europas Ermittlungsbehörden massive Mengen an Kokain – teils hunderte Kilo auf einen Schlag.
AFP/NORBERTO DUARTE

Mehrere Stationen

Das Kokain, das letztlich im Labor im kleinen Poortvliet landete, hatte seinen Ursprung in Kolumbien. Die Drahtzieher, vermutlich eine bisher unbekannte mexikanische Gruppierung, dürften es nach Mexiko gebracht haben. Von dort aus wurde es in flüssiger Form nach Spanien geschmuggelt, bis es schließlich in den Niederlanden landete. Dabei gaben die Schmuggler vor, Zement zu exportieren – und verkauften sogar tatsächlich Betonblöcke, um wie ein legitimes Unternehmen zu wirken.

2020 verfolgte die spanische Polizei eine Lieferung der Firma und fand in dem Zement 830 Kilogramm Kokain und zwölf Kilo Methamphetamin. Die spanischen Behörden vermuten, dass nur "saubere" Lieferungen in Spanien geblieben seien – der Rest wurde in die Niederlande gebracht und dort in Laboren weiterverarbeitet. Die niederländische Polizei gibt an, seit 2018 60 solcher Drogenlabore identifiziert zu haben.

Transnationale Kooperationen und lose Netzwerke

Für den komplexen Schmuggel arbeiteten wohl kolumbianische, mexikanische, spanische und niederländische Kriminelle zusammen. Aktuell laufen Ermittlungen dazu, wie die Gruppierungen das Geld gewaschen haben. Dabei dürfte eine spanische Firma eine Rolle spielen, die laut spanischen Behörden "hohe Summen" über die Vereinigten Arabischen Emirate und Hongkong nach Mexiko überwies.

Solche länderübergreifenden Kooperationen werden immer häufiger. Auch das ist eine neue Entwicklung, die Experten nicht vorausgesehen haben: Südamerikanische Drogenbanden sind oft nicht mehr so hierarchisch organisiert, wie man es aus Serien wie "Narcos" kennt. Großkartelle, die den gesamten Handel in einem Gebiet kontrollieren, haben ihre Monopolstellung im Kokaingeschäft verloren.

An ihrer Stelle hat sich eine Art "freier Markt" gebildet, der wohl auch eine effizientere Produktion ermöglicht. Anstatt großer Banden kooperieren kleine Gruppierungen – aus Südamerika, aber etwa auch aus Serbien oder Albanien – in losen Netzwerken miteinander. An der Verbreitung über den Atlantik profitieren die Südamerikaner weiterhin, indem sie erfahrene Drogenköche und ihr Wissen zusätzlich zu dem Schmuggel "exportieren".

Dadurch, dass die Droge häufig nicht in ihrer finalen Form transportiert wird, braucht es jemanden, der sie umwandeln kann. Der niederländische Polizist Freek Pecht etwa erläutert, dass die Kolumbianer, die in Europa in den Laboren arbeiten, oft die gleichen Personen seien, die das Kokain zuvor in den Schiffen versteckt hatten – weil sie das genaue Rezept kennen würden, um es wieder umzuwandeln. Läuft dabei etwas falsch, könne es passieren, "dass man viel weniger Umsatz generiert – oder die ganze Ladung futsch ist und man nichts mehr hat", sagte er dem belgischen OCCRP-Partner "Knack".

Anbau in Zentralamerika

Gleichzeitig werden die Anbaugebiete immer größer. Stammten die Drogen früher aus Ländern wie Kolumbien, Peru und Bolivien, so erweitert sich das Geschäft nunmehr zunehmend in Richtung Norden, etwa nach Guatemala und Mexiko. Häufig zwingen Banden dort lokale Bauern unter Androhung von Gewalt zum Anbau von Kokapflanzen.

Dadurch ist die Strafverfolgung schwieriger geworden. Sobald Behörden Kokafelder beschlagnahmen, werden die Pflanzen in der Nähe wieder angesetzt. Wissenschafter bezeichnen das als den "Ballon-Effekt": Drückt man bei einem Ballon die Luft heraus, verschwindet diese nicht, sondern bewegt sich an einen Ort mit weniger Widerstand. Damit herrscht sowohl in Südamerika als auch in Europa ein "nie endendes Katz-und-Maus-Spiel", wie ein spanischer Ermittler sagte. (Muzayen Al-Youssef, Hannes Munzinger, 6.11.2023)