Spaziert man durch die engen Gassen der französischen Kleinstadt Annecy, sieht man an jeder Ecke gut gefüllte Restaurants, deren Einrichtung oft eher wie die in Skihütten wirkt und die zu Käsefondue oder Raclette einladen. Ein Bild, das man in Österreich nicht unbedingt mit Frankreich verbindet. Frankreich, das ist in Österreich vor allem Paris und die Côte d’Azur, vielleicht noch die Normandie und Bretagne.

Die Innenstadt von Annecy
Annecy ist bei Touristen sehr beliebt.
Judith Moser

Das "Venedig der französischen Alpen" ist aber in Frankreich ein überaus beliebtes Ziel für Wochenendausflüge und mit seinen rund 130.000 Einwohnern die größte Stadt in der Region Haute-Savoie. Die Region mitten in den Bergen ist für Outdoor-Sport wie Skifahren und Wandern bekannt und zieht darüber hinaus immer mehr Leute aus Großstädten wie Paris an.

Das führt dazu, dass die Immobilienpreise in den letzten Jahren stark gestiegen sind und mittlerweile jenen von Paris ähneln. Ein Umstand, der auch mit der unmittelbaren Nähe zur Schweiz zusammenhängt. Genf ist lediglich rund 40 Autominuten von Annecy entfernt, und viele Fachkräfte arbeiten daher lieber in der Schweiz als in Betrieben in der Region, die mit Schweizer Gehältern nicht mithalten können.

Viele Stellen offen

Die Haute-Savoie, die neben (Ski-)Tourismus und Landwirtschaft auch eine stark ausgebaute Industrieregion ist, ist deshalb eines der am stärksten von Fachkräftemangel betroffenen Gebiete Frankreichs. Das spiegelt sich etwa auch in den zahlreichen Stellenanzeigen auf der Homepage des imposanten Vier-Sterne-Hotels "Palace Imperial" wider, dessen HR-Abteilung aufgrund des enormen Arbeitsaufwandes auch keine Zeit für ein kurzes Gespräch finden kann.

"Ich selbst hatte zwar keine Probleme, Arbeitskräfte zu finden, aber viele meiner Kollegen waren auf Arbeitskräfte aus Spanien oder Marokko angewiesen", erzählt Sylvia Gaec, die Biogemüse und -obst aus eigenem Anbau am Freitagsmarkt in der Altstadt Annecys verkauft.

Die Regierung lässt daher ab 6. November ein neues Einwanderungsgesetz im Senat begutachten, um dem Arbeitskräftemangel entgegenzuwirken. Der Gesetzesentwurf sieht einen besonderen Aufenthaltstitel für Menschen aus Drittstaaten vor, die in Mangelberufen tätig sind oder sein wollen, und Asylbewerbende sollen sofortigen Zugang zum Arbeitsmarkt erhalten. Der Vorschlag wird von rechten Parteien stark kritisiert.

Höhere Gehälter gefordert

Auch Sylvia Gaec hält von dem geplanten Einwanderungsgesetz wenig: "Ich finde, die Leute sollten in ihren Ländern bleiben und dort arbeiten, man entwurzelt die Leute schließlich." Sie ist vielmehr der Ansicht, dass die Gehälter in der Landwirtschaft angehoben werden sollten, und versteht die jungen Menschen, die nicht zum Mindestlohn in einem körperlich anstrengenden Beruf arbeiten wollen; noch dazu in einer Region, in der es schwer ist, eine erschwingliche Unterkunft zu finden.

Der Ökonom Philippe Crevel teilt die Meinung, dass Gehälter für körperlich anstrengende Berufe angehoben werden sollten. Zugleich glaubt er, dass Einwanderung aufgrund des massiven Arbeitskräftemangels in den Bereichen Gesundheit, Gastgewerbe und Bau notwendig sein wird. Er befürwortet, Menschen, die bereits jetzt in Mangelberufen tätig sind, einen legalen Aufenthaltsstatus zu geben. Die negative Haltung gegenüber Einwanderung in seinem Land hält er hingegen für gefährlich. Die Angst vor dem vermeintlichen Anderen sei in Frankreich dabei kein neues Phänomen und gehe schon auf die Immigration aus Italien oder Spanien im 16. Jahrhundert zurück.

Aktiv Erziehungsarbeit leisten

Heute bezieht sich die Abwehrhaltung der Menschen in Frankreich vor allem auf Personen aus den Maghreb-Staaten mit muslimischem Glauben. Crevel ist davon überzeugt, dass man daher aktiv Erziehungsarbeit leisten müsse. Man müsse den Menschen erklären, warum Einwanderung einerseits vorteilhaft für die Wirtschaft und warum es andererseits rein menschlich wichtig sei, Personen in Frankreich willkommen zu heißen, die in ihrer Heimat Armut, Leid oder Gefahr ausgesetzt sind.

Diese Erziehungsarbeit leistet die Menschenrechtsaktivistin und Migrationsforscherin Clelia Compas im kleinen Annecy. Sie hat 2020 den Verein Yambi gegründet, dessen Name auf Kirundi "Ich heiße dich willkommen" bedeutet. Sie will mit ihrem Verein das in Frankreich vorherrschende Vorurteil von Asylbewerbenden, die vom Steuergeld leben und nicht arbeiten wollen, bewusst konterkarieren: Über Bergsport will sie geflüchtete Menschen mit der lokalen Bevölkerung zusammenbringen und somit für gegenseitiges Verständnis und Annäherung sorgen.

Ein Großteil der Outdoor-Aktivitäten in der Region wäre für Menschen, die keinen gültigen Aufenthaltsstatus haben, ohne Yambi nicht zugänglich. Ihnen fehlt es an Know-how und finanziellen Mitteln. Bergsport ist teuer und zugleich ein wichtiger Anknüpfungspunkt mit der lokalen Bevölkerung, die ihn als Teil ihrer regionalen Identität begreift.

Das vermeintliche Paradies

Tatsächlich kann man der beeindruckenden Bergkulisse in Annecy nicht "entkommen": An jeder Ecke blitzt der Hausberg Mont Veyrier oder der etwas weiter entfernte Parmelan hervor. Der nächste Skilift ist circa 30 Autominuten, der bekannte Wintersportort Chamonix rund anderthalb Stunden mit dem Auto entfernt, und im Sommer sieht man ständig Paraglider über dem Lac d’Annecy. "Für Asylbewerbende bedeutete das quasi, im Paradies zu sein, aber nichts angreifen zu können", meint Compas.

Die Idee zur Gründung von Yambi hatte sie bereits 2018, als viele Geflüchtete in Annecy angekommen sind und medial darüber berichtet wurde, wie zahlreiche Menschen die Alpen teilweise barfuß im Schnee überquert hatten. "Wir wollten unsere Leidenschaft für unsere Berge mit den ankommenden Menschen teilen", sagt Compas.

Ob die lokale Bevölkerung ihr Projekt annehmen würde und offen sei für die Diversität, die sie in das kleine Alpenstädtchen bringen wollte, war Compas nicht sicher: "Der Mikrokosmos Outdoor ist doch sehr männlich, weiß und privilegiert, und sogar ich, die ich eine weiße, christliche Französin bin, bekomme oft zu hören, dass ich nicht von hier bin, weil ich meine Kindheit in der Champagne verbracht habe." Zudem habe die Region eine sehr starke rechte Wählerschaft, "wenngleich man die Region nicht mit dem 'Fascho-Land' im Süden Frankreichs vergleichen kann“, fügt sie mit einem Schmunzeln hinzu.

Breite Unterstützung

Nach anfänglichen Drohbriefen wurde ihr aber wider Erwarten viel Unterstützung entgegengebracht: Große Outdoor-Marken wie Salomon oder Patagonia sponsern den Verein, vier Skistationen ermöglichen den Schutzsuchenden kostenlose Skipässe, und Bergführerinnen und Skilehrer geben ihr Wissen weiter. Das Engagement der lokalen Bevölkerung trägt dazu bei, dass Yambi mittlerweile eigene Büroräumlichkeiten und vier Angestellte hat und neben Wandern und Skifahren auch Französisch- und Computer-Kurse anbieten kann. Seit 2021 besteigt Yambi außerdem jedes Jahr mit einer Gruppe junger Menschen den Mont Blanc.

Das von Yambi angebotene Freizeitprogramm wird von den Asylbewerbenden als willkommene Abwechslung gesehen, denn ohne gültige Aufenthaltspapiere haben sie weder Recht auf einen Französisch-Kurs noch Zugang zum Arbeitsmarkt. "Sie wollen ja arbeiten, Steuern zahlen und einen Beitrag zur Gesellschaft leisten, aber sie dürfen nicht, und das, obwohl in zahlreichen Restaurants Arbeitskräfte fehlen", erzählt Compas.

In einem dieser Restaurants arbeitet die 22-jährige Nassima, die vor rund einem Jahr aus Afghanistan nach Frankreich gekommen ist und rund einen Monat nach ihrer Anerkennung als Flüchtling Arbeit gefunden hat. Wenngleich Nassima eigentlich Künstlerin werden möchte, findet sie, dass die Arbeit in der Gastronomie eine gute Möglichkeit ist, um Französisch zu sprechen und Einheimische kennenzulernen. Durch ihre Arbeit und den Verein Yambi fühlt sich Nassima mittlerweile wohl in Annecy. Auch wenn sie ihre Familie vermisst und sie es stört, wenn sie manche Menschen schief anschauen oder auslachen, wenn sie mit ihrer Kleidung im See schwimmen geht.

Die Wahl haben

Yambi-Gründerin Clelia Compas ist jedenfalls der Meinung, dass man in Frankreich lernen sollte, das vermeintlich Andere zu akzeptieren. "Durch die Folgen des Klimawandels werden in den nächsten Jahren Millionen Menschen nach Europa kommen. Wir haben also die Wahl: Entweder alle bleiben in ihrer Ecke, oder wir entschließen uns dazu, gemeinsam zu leben. Das bedeutet, einen Schritt aufeinander zuzugehen, sich in der Mitte zu treffen, einander kennenzulernen und eine gemeinsame Kultur zu entwickeln." Und sie fügt hinzu: "Wir sollten Migration als kulturelle Bereicherung begreifen, ansonsten werden wir einander früher oder später die Köpfe einschlagen." (Judith Moser aus Annecy, 8.11.2023)