Kolumne Mittel-Alter Babyboomer
Der Tinnitus als lebenslanger Freund und Wegbegleiter: Roger Daltrey (li.) und Pete Townshend von The Who rocken bald 60 Jahre nach Bandgründung munter weiter (hier in Cincinnati, 2022).
Amy Harris/Invision/AP

Wer sich der eigenen Spannkraft versichern möchte, besitzt ein untrügliches Mittel: Er besucht die Wiener Arena in der Erdberger Baumgasse. Dort, hinter backsteinerner Fassade, spielten die US-Lärmrockband Swans soeben eines ihrer markerschütternden Noise-Konzerte. Die Ohren der Besucher werden noch viele Wochen lang vom Donner dieses Hochamtes zehren. So hatten diesmal nicht nur die leidgeprüften Arena-Anrainer Spaß am Krach. Akustische Ausläufer waren, wird kolportiert, bis jenseits der Donau, in die Kleingartensiedlungen des 22. Bezirks, zu hören. Es soll SPÖ-Anrainer geben, die den kostengünstigen Erwerb ihrer heimeligen Grün-Oase schon wieder bereuen.

Michael Gira, der bezopfte Hohe­priester der New Yorker Krawallvereinigung, ließ hohe Klangfluten auftürmen. Auf seinen Wink hin brachen sie mit unwiderstehlicher Wucht über Zwerchfell und Organsack der Hörer herein. Schon Rilke schrieb aus ähnlichem Anlass: Wer jetzt keine Ohrenstöpsel trägt, vernimmt nie wieder was vom Herbst!

Als bulliger Babyboomer erfuhr ich meine popmusikalische Sozialisation in der Wiener Stadthalle. In den späten Jahren der Kreisky-Ära gaben sich dort praktisch alle Pop-Dinosaurier die Klinke in die Hand. Led Zeppelin hinterließen einen verstörten Eindruck. The Who kamen mit Bläsern an, jedoch ohne Keith Moon, der zum damaligen Zeitpunkt gestorben war. Pete Townshend fräste sturzbetrunken durch die falschen Akkordfolgen.

Stöpsel? Fehlanzeige!

Ohrenstöpsel? Fehlanzeige. Man ertrug die tagelange Taubheit als Zeichen einsetzender Reife. Fasziniert betrachtete ich während solcher Phasen die Lippenbewegungen meiner AHS-Professoren. Was sie zu sagen hatten, teilten sie meiner Mutter am Elternsprechtag sicherheitshalber gleich noch einmal mit. Häufig verließ sie die pädagogische Auskunftsstelle mit verweintem Gesicht. (Ronald Pohl, 8.11.2023)