Schriftstellerin A. L. Kennedy (58) ist in Österreich gern gesehen, sie erhielt bereits den Staatspreis und den Ehrenpreis des Buchhandels.
Schriftstellerin A. L. Kennedy (58) ist in Österreich gern gesehen, sie erhielt bereits den Staatspreis und den Ehrenpreis des Buchhandels.
Robin Niedojadlo

Mit ihren scharfen Gesellschaftsanalysen ist A. L. Kennedy eine der profiliertesten Autorinnen Großbritanniens. "Ich lebe vom Schreiben, deshalb muss ich ein Buch halbwegs flott beenden. Prosa zu schreiben ist verdammt schwierig. Wenn man mit Plan vorgeht, schafft man einen ­Roman durchschnittlicher Länge in einem Jahr", sagt sie. Am Mittwochabend eröffnet Kennedy die Buch Wien.

STANDARD: In Ihrem neuen Roman "Als lebten wir in einem barmherzigen Land", der im März erschienen ist …

Kennedy: ... auf Englisch erst 2025.

STANDARD: In zwei Jahren! Warum?

Kennedy: Deutschland ist interessierter an Büchern. Es ist ein sehr langwieriger Prozess, in Großbritannien ein Buch publiziert zu kriegen, wenn man nicht J. K. Rowling heißt. Es dauert zwei, vielleicht drei Jahre, weil es nicht genug Platz für Interviews und Rezensionen in den Medien gibt. Man muss weit voraus­planen. Es ist verrückt. Ich kenne Booker­-Prize-Gewinner mit dem Pro­blem. Es gibt auch viel Nervosität.

STANDARD: Nervosität?

Kennedy: Ja, unter Autoren darüber, dass sie von der konservativen Presse und rechten Politikern gecancelt und dämonisiert werden, die die Kontrolle über das Narrativ haben wollen. Autoren sind nervös, etwas zu sagen, das die Daily Mail nicht mögen könnte. Dann schalten sich noch die Marketingabteilungen ein.

STANDARD: Autoren zensieren sich selbst aus Angst vor der "Daily Mail"?

Kennedy: Viele Bücher erscheinen auch gar nicht. Oder Autoren wechseln von großen zu kleinen Verlagen. Ich wurde mal von einer Zeitung gebeten, darüber zu schreiben, habe aber dann abgesagt. Ich wollte den damit verbundenen Kummer nicht. Ich war gerade umgezogen.

STANDARD: Kummer?

Kennedy: Die Menschen wussten nicht, wo ich nun wohne und wie sie zu mir kommen. Deshalb bin ich auch gern für Lesungen und Vorträge im Ausland. Es ist nett, Dinge sagen zu können ohne die Angst, dass Menschen zu dir nach Hause kommen und dich bedrohen. Bevor ich umgezogen bin, habe ich mein Auto nie bei meinem Haus geparkt, damit es nicht mit mir assoziiert würde.

STANDARD: Das klingt schrecklich ...

Kennedy: Die Antwort der Zeitung auf meine Absage war daher auch: Verstehen wir, die meisten wollen das nicht mehr. Viele Autoren schreiben in Büchern, was sie sagen wollen, möchten aber damit nicht mehr in die Presse, weil sie nicht bedroht und gecancelt werden wollen.

STANDARD: In Ihrem neuen Roman versucht eine Lehrerin, die Welt besser zu machen. Wir leben inmitten von Krisen, die Welt scheint in einer Endzeit. Sie werden auf der Buch Wien aber über Anfänge sprechen. Warum?

Kennedy: Weil wir entweder verzweifeln können, weil alles so schrecklich ist, und dann wird es erst wirklich schrecklich. Oder wir wachen jeden Morgen auf und bemühen uns, es besser zu machen und eine kritische Menge an Menschen zusammenzubringen, die kleine oder größere Sachen anpacken und die Dinge ändern. Wir sind darauf programmiert, unsere Aufmerksamkeit auf Probleme zu lenken. Aber so kommt man in einen Teufelskreis, in dem alle Neuigkeiten schlecht sind. Doch es sind nicht alle Neuigkeiten schlecht. Indigene versuchen etwa in Südamerika, indigenes Land zurückzugewinnen, und setzen sich zur Wehr. Und Menschen in den USA haben gerade kräftige Gehaltserhöhungen und bessere Arbeitsbedingungen verhandelt.

STANDARD: Man soll also nicht auf die guten Nachrichten vergessen?

Kennedy: Macht etwas, von dem ihr wisst, dass es praktisch nützlich ist! Mir ist bewusst, dass ich zu einer Gruppe von Buchmenschen sprechen werde und es da ökonomische Überlegungen und so weiter gibt. Aber sie müssen wissen, dass das, was sie tun, wichtig ist. Empathie bringt Menschen weiter weg von der Psychopathie. In vielen Ländern gibt es eine Übereinkunft, dass Künste weniger wichtig werden, sich rechtfertigen müssen. Da verliert man etwas, das die letzte Barriere ist, ehe man die Menschenrechte verliert.

STANDARD: Klima, Kriege, Lebenshaltungskosten, Ungleichheit, gespaltene Gesellschaften, Rechtsruck – es gibt aktuell besonders viele Probleme.

Kennedy: Das ist eine sehr weiße, europäische Einschätzung. Viele weiße Menschen erfahren jetzt einen klitzekleinen Bruchteil von dem, was andere immer schon erlebt haben. Momentan sterben in Großbritannien Menschen an Hunger, ja, das ist grauenvoll. Natürlich. Aber für ganz viele andere Menschen ist es immer schon grauenvoll gewesen, und es hat uns nicht gekümmert. Wenn Menschen jetzt sagen, sie seien bedrückt, muss ich sagen, dies und das passiert andauernd. Eine emotionale Reaktion ändert nichts, sie ist eine Vergeudung von Energie. Tu lieber was dagegen!

STANDARD: Wissen und Geld gäbe es ja. Warum tun wir zu wenig?

Kennedy: Nach dem Zweiten Weltkrieg haben die Menschen festgestellt, wenn man keine Menschenrechte und Gesetze hat, hat man keine Sicherheit. Sie haben also neue Gesetze geschaffen. Zudem waren Menschen in der Armee auf Menschen aller Schichten getroffen, die sie sonst nicht getroffen hätten. Es ging nicht darum, woher man kam, sondern was man konnte. Das hat eine Gesellschaft geformt, die für alle darin basal funktionierte.

STANDARD: Und heute?

Kennedy: Neu ist, dass sich die britische Regierung heute benimmt, als ob sie ein fremdes Land okkupiert – in ihrem eigenen Land. Im Internet sieht man die Wütenden, aber in weiten Teilen sind die Menschen einfach deprimiert wegen der seltsamen Politik. Es ist deprimierend, gefrorenes Gemüse zu kaufen, das man, weil man ewig in Schlangen steht, sofort verkochen muss, wenn man wieder zu Hause ist. Die Regierung nimmt der Bevölkerung Bildungsmöglichkeiten, zieht Ressourcen ab, reduziert das soziale Netz. Als würde sie nicht selbst in diesem Land zu leben gedenken.

STANDARD: Sind Sie pessimistisch?

Kennedy: Ich kann nicht sagen, was morgen sein wird, ich kann nichts anderes tun, außer heute mein Bestes zu geben. Um optimistisch oder pessimistisch zu sein, dafür haben wir nicht genug Information. Deshalb funktioniert auch die Internetpropaganda so gut, weil sie mit Hoffnungen und Ängsten arbeitet. Wir müssen entschlossen Narrativen entgegentreten, die nicht verrückter sind als vor Covid, aber die sich nun sehr verstärken, einen über Youtube und Twitter in die Wohnzimmer und Träume verfolgen. Das Internet kann nicht Spielfeld von Konzernen sein, die daraus Kapital schlagen, dass Menschen einander die schlimmstmöglichen Dinge sagen. Aber die allermeisten jungen Menschen versuchen, anständig zu sein und die Welt zu retten. Diese neue Generation ist wundervoll.

STANDARD: Sollen Ihre Bücher die Welt verändern?

Kennedy: Es geht mir nicht darum, Botschaften zu senden. Aber Fiktion verändert Individuen, trainiert Empathie. Will man bestmögliche Literatur schreiben, gehört das dazu. (Michael Wurmitzer, 8.11.2023)