Gut Ding braucht Weile. Im Fall dieses Wälzers lässt sich ohne viel Übertreibung von einem Lebensprojekt sprechen: Als der US-amerikanische Historiker John W. Boyer Anfang der 1980er-Jahre eingeladen wurde, für die Serie Oxford History of Modern Europe einen Band über Österreich beizusteuern, hatte er gerade sein erstes Buch über die Wurzeln der Christlichsozialen im Wien der Monarchie publiziert. Dieses vielbeachtete Werk, das ihm den Buchvertrag einbrachte, erschien im Jahr 1981; sein Autor war damals 35 Jahre alt.

John Boyer Austria
Der Historiker John Boyer in seinem Büro an der Universität Chicago vor vielen Büchern über Österreich und einigen Exemplaren seines eigenen Wälzers.
Klaus Taschwer

Während der Covid-Pandemie gab Boyer dann das Manuskript von "Austria, 1867–1955" bei seinem Verlag tatsächlich ab. Bei Oxford University Press war man etwas überrascht, wie der heute 77-Jährige beim Interview in seinem großen Büro an der Universität Chicago schmunzelnd erzählt. Beim Verlag hatte man nicht mehr wirklich damit gerechnet, dass dieses Werk noch je fertiggestellt würde. Und vor ziemlich genau einem Jahr ist das mehr als 1.000-seitige Opus magnum über 88 wichtige Jahre österreichischer Geschichte doch noch erschienen – und wird nächste Woche in Wien erstmals präsentiert werden.

Neue Welt in der Alten Welt

Dass sich Boyer, der als Erster aus seiner Familie ein Studium absolvierte, bei seinen historischen Forschungen ausgerechnet auf Österreich konzentrieren würde, hatte mehrere Gründe. Als junger Student hatte er sich zunächst für US-Geschichte interessiert, für seine Dissertation an der Universität Chicago dann Deutschland anvisiert. "In den 1970er-Jahren konnte das aber bedeuten, für einige Jahre der Forschung in Städten wie Dortmund oder Koblenz zu landen." Wien und die Habsburgermonarchie seien damals die eindeutig attraktivere Wahl gewesen.

Zudem machte er bei seinen Recherchen eine für ihn überraschende Entdeckung: Wie die beiden Massenparteien – also die Christlichsozialen und die Sozialdemokraten – und insbesondere Lueger in Wien Politik machten, ähnelte für ihn ganz stark dem, was in den USA und insbesondere auch in Chicago als "political machine" bekannt ist: ein komplexes System aus Patronage, Beziehungen und Wählerstimmen, das für Korruption anfällig ist. "Ich ging zurück in die Alte Welt nach Österreich und entdeckte dort meine neue Welt von Chicago in der alten Welt Wiens um 1900", sagt Boyer. Anders formuliert: Die Zuwandererstadt Wien funktionierte nach ähnlichen politischen Organisationsprinzipien wie die Zuwandererstadt Chicago.

Religion und Politik

Dass sich Boyer in seinen Arbeiten vor allem mit den Christlichsozialen und Lueger befasste, lag nicht zuletzt an seinem bis heute bestehenden Interesse an den Wechselwirkungen zwischen Religion und Politik. In Österreich wurde ihm das immer wieder als ÖVP-Nähe ausgelegt: "Ich muss dann immer sagen, ich bin US-Amerikaner und kein Parteihistoriker der ÖVP – oder gar ihr Mitglied." Dem Historiker wird man auch keine Antwort zu seinen tagespolitischen Präferenzen oder Vorschläge zum Umgang mit dem Lueger-Denkmal entlocken. Er verweist nur lakonisch darauf, dass Wiens umstrittener Bürgermeister auch der Gründer einer der beiden österreichischen Großparteien war – ganz egal, wie man nun zu Lueger stehe.

Boyers strikte Unparteilichkeit zumal in tagespolitischen Fragen hat auch mit seinen verantwortungsvollen Positionen an der Universität Chicago zu tun, wo der Schnurrbartträger den Status einer Legende genießt. Der Historiker war dort von 1992 bis Juni 2023 Dean of College, also Dekan für alle noch nicht graduierten Studierenden – eine Funktion, die es an österreichischen Unis in dieser Form nicht gibt. Als längstdienender Dekan trug Boyer wesentlich zur weiteren Internationalisierung und Diversifizierung der Studierenden an der Privatuniversität bei, die seit Jahren zu den zehn besten der Welt zählt. In seiner neuen Funktion berät er den Uni-Präsidenten in Fragen der Internationalisierung. Eine engere Kooperation mit Paris ist in konkreter Planung.

Universitätshistorische Exkurse

Als Dekan hatte Boyer wiederum uneingeschränkten Zugang zum Archiv der 1890 gegründeten Universität. "Und diese einzigartige Möglichkeit konnte ich mir als Historiker nicht entgehen lassen", sagt der Historiker, weshalb er neben seinen Arbeiten zur Geschichte der späten Habsburgermonarchie und von Österreich nach 1918 auch noch eine fast 700-seitige Geschichte seiner Universität verfassen "musste". Das sollte seine Arbeit am Opus magnum zur österreichischen Geschichte weiter verzögern – aber indirekt auch bereichern.

Denn in "Austria, 1867–1955" nehmen die Hochschulen eine für solche Überblickswerke unüblich prominente Stellung ein: Boyer bekräftigt im Gespräch, dass insbesondere auch in Österreich die Universitäten im späten 19. Jahrhundert wichtige Motoren der Modernisierung gewesen seien. "Sie haben ganz wesentlich zur Hervorbringung einer neuen Intelligenzija und neuen Öffentlichkeiten beigetragen, was lange unterschätzt wurde", ist der Historiker überzeugt, der im Übrigen ein streitbarer Verfechter der akademischen Meinungsfreiheit ist und auch über dieses in den USA hochumstrittene Thema lesenswerte Texte schrieb.

Von der Monarchie zur Republik

Eine andere Besonderheit seines beeindruckenden Standardwerks, dessen Literaturverzeichnis allein über 100 Seiten umfasst, besteht darin, dass es die politische Geschichte der deutschsprachigen Provinzen des Habsburgerreichs vor 1914 mit der Geschichte der 1918 entstandenen österreichischen Republik und der demokratischen Nationenbildung verbindet. Dass auf dem Cover des Buchs mit Kaiser Franz Joseph, seinem Nachfolger Karl I. und Thronfolger Franz Ferdinand dennoch nur Vertreter der Zeit bis 1918 abgebildet sind, sei eine Entscheidung des Verlags gewesen und wohl nur aus Marketinggründen passiert.

John Boyer Austria
Wenn es nach ihm gegangen wäre, dann wäre der Sozialdemokrat Karl Renner auf das Buchcover gekommen, sagt John Boyer.
Klaus Taschwer

Sein Favorit wäre Karl Renner gewesen, den man aber international wohl zu wenig kennt. "Ich hege große Bewunderung für seine chamäleonhafte Schlauheit. Renner kommt mir manchmal wie eine Figur aus einem Woody-Allen-Film vor. Egal, mit wem er sprach: Er konnte seine Gesprächspartner stets überzeugen, dass er auf ihrer Seite stand." Ob das ethisch vertretbar ist oder nicht, sei eine andere Frage, sagt der Historiker, der mit seinem Standardwerk ausdrücklich "keine moralisierende Erzählung" für die Österreicher schreiben wollte.

Erste und Zweite Republik

Warum die Erste Republik scheiterte, die Zweite aber nicht, ist für Boyer eine der besonders faszinierenden Fragen. Es habe in der Zwischenkriegszeit ganz andere externe Rahmenbedingungen gegeben – mit der Verarmung des verkleinerten Landes, der Wirtschaftskrise 1929, und Mussolini und Italien und Hitler in Deutschland. Womöglich wäre die Sache besser ausgegangen, wenn sich die linken Christlichsozialen und die rechten Sozialdemokraten in ihren Parteien durchgesetzt und kooperiert hätten, meint Boyer, der diese hypothetische Möglichkeit aber nur auf zehn Prozent schätzt.

Diese Kooperation, die Renners Traum 1919 gewesen sei, wurde dann 1945 möglich, sagt Boyer und trug seiner Meinung nach wesentlich dazu bei, dass Österreich nach dem Zweiten Weltkrieg zu einer Erfolgsgeschichte wurde. Aber es habe sich bei den großen Koalitionen bis in die späten 1960er-Jahre um alles andere als eine glücklichen Ehe gehandelt. "Da gab es sehr heftige Spannungen, aber irgendwie lernten die Politiker in der täglichen Praxis damit zu leben. Letztlich hat das aber auch zu einer sehr elitären Politik geführt."

Boyers Buch endet nicht mit dem Jahr 1955, sondern mit einem Epilog, der bis in die Kreisky-Jahre reicht. Österreichs heutige Identität seit zum Teil erst noch später geformt worden, sagt der Historiker, der sich an die in Österreich miterlebten Diskussionen unmittelbar vor der Volksabstimmung 1994 über den EU-Beitritt erinnert: "Die meisten österreichischen Universitätsangehörigen und Intellektuellen, die ich in dieser Zeit getroffen habe, sind damals gegen den EU-Beitritt gewesen. Mir schienen die Vorteile aber offensichtlich: Österreich ist ein sehr kleines Land ist, und die EU ist sehr groß. Das Gegenargument war dann meist: 'Aber das wird unsere Identität verändern.' Und ich sagte daraufhin: 'Ja, das wird Österreichs Identität massiv verändern.'" (Klaus Taschwer, 12.11.2023)

Anm. der Red.: Wir haben 88 aus dem Titel entfernt, weil die Zahl Anlass für ungewollte (Fehl-)Interpretationen gab. (Von der Dezember-Verfassung 1867 bis zum Staatsvertrag am 15. Mai bzw. zum Beschluss der Neutralitätsgesetzes am 26. Oktober 1955 sind es nun einmal 88 Jahre.)