Nahost Philosophie Manifest Butler Benhabib
In dubio pro Palästina: US-Starphilosophin Judith Butler, Feministin, Denkerin der performativen Macht von Sprache.
imago/ZUMA Press

Es fällt schwer, täglich die schrecklichen Bilder aus Nahost zu sehen – und unter dem Eindruck der wechselseitigen Gewalt Erwägungen vorzunehmen, die einer philosophischen Überprüfung standhalten. Genau diesen Anspruch haben jüngst 207 Philosophieprofessorinnen und -professoren aus zwei Kontinenten erhoben. Zu Monatsanfang veröffentlichten professionell Denkende aus Europa, Nord- und Südamerika das Manifest "Philosophy for Palestine".

Der Text selbst lässt an seiner Parteilichkeit zugunsten der Palästinenser nicht den geringsten Zweifel. Die Unterzeichnet-Habenden, unter ihnen Starphilosophinnen wie Judith Butler und Nancy Fraser, verweisen gleich einleitend auf die "bewundernswerten Fortschritte", die die Philosophie in jüngerer Vergangenheit erzielt habe.

Vorbei soll es sein mit dem Ausschluss Schwacher und Marginalisierter aus den Hallen altehrwürdiger Akademien. Das Engagement der Beteiligten wendet sich gegen drückendes Unrecht. Es soll helfen, "Komplizenschaft und Stillschweigen" endlich auch auf den Lehrkanzeln der Philosophie ein Ende zu bereiten. Was folgt, ist der unter Kulturlinken obligat selektive Abriss der letzten 75 Jahre in Nahost. Die israelischen Attacken auf Gaza werden als "sich entfaltender Genozid" an der Zivilbevölkerung gedeutet, eine zweite "Nakba" (Vertreibung, in Anlehnung an die Flucht vieler Palästinenser 1948) wird als "treffender Ausdruck" der aktuellen Ereignisse gewürdigt.

In der textlichen Redaktion von Butler und Co spielt das beispiellose Massaker an 1400 israelischen Bürgerinnen und Bürger vom 7. Oktober eine, vorsichtig gesprochen, untergeordnete Rolle. "Die Bedingungen, die Grausamkeit hervorrufen, gehören beseitigt." Kein Wort von der exponierten Rolle der Hamas. Der "Aggressor" sitzt in Tel Aviv. Gefordert wird der Boykott des Staates Israel, sowohl kulturell als auch akademisch. Zuletzt fällt, mit Blick auf die israelische Politik, das Wort Apartheid.

Ganz bestimmte Linse

Die vollmundige Progressivität einer solchen "Kritischen Theorie"-Bildung hat jetzt Widerspruch hervorgerufen – aus dem Kolleginnenkreis. Die türkischstämmige US-Professorin Seyla Benhabib – sie lehrt in Yale – gab ihren Kolleginnen jetzt auf mehreren Ebenen öffentlich Kontra. Dem Aufruf wirft sie vor, einen unzulässigen Kontext zu bilden. Das geschehene Unrecht werde einzig durch die "Linse des Siedlerkolonialismus" gesehen.

Einer solchen Betrachtungsweise zufolge erscheint Israel vor allem als Kolonisator, als Eroberer und Unterdrücker. Die barbarischen Pogrome vom 7. Oktober würden zu legitimen Notwehrakten heruntererklärt. Verschwiegen bleibe, dass die Hamas eine "Vernichtungsagentur" sei. Zionismus sei jedoch kein Rassismus. In Benhabibs sorgsamen Abwägungen kommt Israel-Kritik ausführlich zu Wort. Sie rekapituliert ihr eigenes Eintreten für eine Zweistaatenlösung. Vor allem aber plädiert Benhabib für ein Durchbrechen des ewigen Zirkels der Gewalt in Nahost. Klare Worte findet sie für den jihadistischen Furor der Hamas, für deren Gewaltpornografie, mit der längst Bilderkanäle geflutet werden, während "von Paris bis Dagestan" ein Neo-Antisemitismus sein furchtbares Haupt erhebe.

Benhabib fordert eine Feuerpause in Gaza. Am Ende des Tages erscheint ihr die Errichtung eines Palästinenserstaates als unausweichlich. An die Adresse aller philosophisch Lehrenden richtet sie ein eindrucksvolles Wort: Man möge redlich sein und die eigenen Auffassungen intellektuell "rein" erhalten. (Ronald Pohl, 9.11.2023)