Wurde in St. Petersburg geboren und lebt seit seiner Jugend in Kiew: der Schriftsteller Andrej Kurkow.
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Wie er, Andrej Kurkow, all diese Tragik mit so viel Humor beschreiben könne, fragt jemand nach der Lesung. Es ist kalt und windig an diesem Abend in der deutschen Hauptstadt, und im hell erleuchteten Keller einer Moabiter Buchhandlung haben sich rund 40 Personen zusammengefunden, um dem Mann, der aus dem Krieg ins herbstliche Berlin gekommen ist, zuzuhören.

In seinem Buch Samson und das gestohlene Herz geht es allerdings nicht um den russischen Angriffskrieg gegen Kurkows Heimat. Aber es gibt deutliche Parallelen, die sich bei der Lektüre des zweiten Bandes der Krimireihe geradezu aufzwingen, wenn man die beiden Protagonisten der Geschichte, Samson und Nadjeschda, durch die turbulente Zeit um 1919/20 begleitet.

Unruhige Zeiten

Die Bolschewiki haben die Kontrolle über Kiew übernommen, der Kampf um die Unabhängigkeit der Ukraine ist gescheitert, dennoch rütteln viele andere Gruppierungen an der neuen Macht der Sowjets. Es ist eine Zeit der Ungewissheit und des Übergangs. Neue Gesetze werden erlassen, es fehlt an Lebensmitteln, an Möbeln, auch an kundigem Personal, das für die Durchsetzung des neuen Rechts sorgt. So heißt es an einer Stelle im Roman: "Überhaupt gab es zu wenig Salz, wie es auch überhaupt zu wenig Zucker gab. Das war die bittere Wahrheit dieser unruhigen Zeit, die man weder mit Salz noch mit Zucker schmackhaft machen konnte."

Auch Samson, der nicht auf den Kopf gefallen ist, muss seinen Platz in dieser Zeit der existenziellen Verwerfungen finden. Er ist kein überzeugter Bolschewik, sondern will vor allem eines: überleben, ohne seinen moralischen Kompass vollends über Bord werfen zu müssen.

So wird er – wie viele - zum Quereinsteiger. Er steigt als Ermittler bei der Miliz des Libedsker Reviers ein – durch einen Zufall, weil der Schreibtisch seines Vaters von der Miliz konfisziert wurde und Samson ihn bei der Miliz ausfindig macht. In der neuen Geschichte bekommen Samson und sein Kollege Cholodnij den skrupellosen Tschekisten Abjasow vor die Nase gesetzt.

Fleischskandal

Der bringt die beiden zu ihrem nächsten Fall. Denn die neuen Machthaber haben verordnet, dass man zwar ein Schwein besitzen darf, es aber nicht ohne offizielle Genehmigung schlachten und das Fleisch verkaufen darf.

Samson wird über den vermeintlichen "Fleischskandal" in einen Strudel von Ereignissen gezogen, wobei man sich hier keinen actiongeladenen Thriller oder einen auf Suspense abzielenden Plot erwarten darf. Kurkow ist ein genauer Erzähler, dem es gelingt, das damalige Alltagsleben detailreich wiederzugeben. Dank der Akten aus den Archiven des NKWD (Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten der Sowjetunion), die ihm von einer unbekannten Frau vermacht wurden, wie er bei der Lesung in Berlin berichtet.

Empathie und Widersprüche

Die sogenannten Kriminalfälle sind ihm nur Vorwand, ein Bild jener Zeit zu erschaffen, in dem diese universelle Frage verhandelt wird: Wie schaffen es Menschen in Zeiten des Chaos und des Leids, ihren eigenen Wertekompass aufrechtzuerhalten, pathetisch gesagt, wie bleiben sie Menschen?

Kurkow ist in dieser Hinsicht ein humanistischer Autor, dem es mit viel Empathie gelingt, diese Frage auszuloten, ohne dabei Widersprüchlichkeiten unter den Teppich zu kehren. Denn auch Samson ist alles andere als ein ausschließlich vernunftbegabter Mensch, sondern er wird durch die sozialpolitischen Rahmenbedingungen jener Zeit, in der es häufig die Willkür ist, die über Schicksale entscheidet, mit seinen eigenen Abgründen und mit denen seiner Mitmenschen konfrontiert.

Buchcover
Andrej Kurkow, "Samson und das gestohlene Herz". Aus dem Russischen von Johanna Marx und Claudia Zecher. Mit Illustrationen von Juri Nikitin. € 24,70 / 432 Seiten. Diogenes, Zürich 2023.
Diogenes

Brücke zur Gegenwart

Die Sprache, die Kurkow benutzt, ist im besten Sinne poetisch und ergreifend, worin ein weiterer Kunstgriff dieses begnadeten Erzählers liegt: Poesie als Widerstand gegen den bedrückenden Kampf des alltäglichen Überlebens. Zudem nutzt Kurkow seinen ausgeprägten Sinn für Humor, der die grotesken Mechanismen offenlegt, mit denen versucht wird, Macht über andere auszuüben.

Wie er beschreibt, wie jungen Milizarbeitern eingetrichtert wird, Festgenommene bei Verhören gekonnt einzuschüchtern, ist schlicht meisterhaft und von einer bitterbösen Tiefe, die einem den Hals zuschnürt. Auf weitere Bände dieser höchst eigenwilligen Reihe kann man also nur gespannt sein.

Nach einer der schönsten Szenen des Buches, in der Kurkow Nadjeschdas und Samsons kleine Hochzeitsfeier beschreibt, heißt es zum Schluss: "Auf dass der Sommer bald kommt!" Und ohne dass es explizit gesagt wird, versteht man diesen Satz intuitiv als Brücke in die Gegenwart des Krieges und als Aufschrei der Hoffnung, die die Ukraine so dringend braucht. (Ingo Petz, 10.11.2023)