Wolle, Wellen und das Meer
Über 1500 Menschen in ganz Österreich haben für die Linzer Installation Korallen gehäkelt – sie ist Teil des weltweiten "Crochet Coral Reef"-Projekts.
OÖ LGK

Böhmen liegt am Meer, behauptet Ingeborg Bachmann in ihrem Gedicht. Stimmt. Bis vor etwa 25 Millionen Jahren war das so. Korallenstöcke werden heute noch am Dachstein aufgefunden. Hallstatt lag einst am Äquator. Im Linzer Schlossmuseum ist das Skelett eines tonnenschweren Mondfischs aus dem Molassemeer in Stein verewigt. Die Kuratorin führt mich zum Raum, in dem ein gehäkeltes Korallenriff vorbereitet wird. Als sie die Türe öffnet, breche ich in begeisterte Rufe aus, will sofort nach einzelnen Stücken greifen.

"Das geht allen so, die hier hereinkommen", meint Genoveva Rückert. Auf Tischen ausgelegt befinden sich die Werke tausender Teilnehmerinnen, die am Austrian Satellite Reef mitarbeiteten. Kräusel, Rüschen, Farbverläufe, kontrastierende Ränder, Blütenformen, glitzernd, kratzig, flauschig, buschig, strahlend, fransig, zapfenförmig, zottelig, geschwungen, sich aufbäumend, gurkig, silbrig, wuschelig. Allein die schiere Menge überwältigt. Wie aber passen Wolle, Wellen und Meer zusammen?

"Das ist keine Dokumentation, sondern Kunst"

"Das ist keine Dokumentation, sondern Kunst", meint Christine Wertheim, Mitgründerin des weltweiten Crochet Coral Reef, das sie und ihre Zwillingsschwester 2005 in ihrem Wohnzimmer in L.A. entwickelten. Linz bildet nun die 52. Station. Die Wissenschaftsautorin Margaret Wertheim erzählt, dass es dabei anfangs um die Darstellbarkeit höherer Mathematik ging. "Der lettischen Mathematikerin Daina Taimina gelang es, hyperbolische Formen durch Häkeln sichtbar zu machen, indem sie bei jedem Durchgang mehr Maschen aufgenommen hat, sodass krause Formen entstanden, die an Salatblätter oder Korallen erinnern. Bislang dachten viele Mathematiker, dass hyperbolische Geometrie nicht darstellbar sei."

"Obwohl", Wertheim zeigt genüsslich auf die in einer Vitrine ausgelegten Häkeldeckchen, "ihre Frauen, Tanten und Töchter zu Hause täglich mit der Herstellung derartiger Formen beschäftigt waren. Aber die Herren schauten eben nicht hin." Für Wertheim bedeuten diese Formen verkörpertes Wissen, worüber vor allem Frauen verfügen, während in unseren Gesellschaften üblicherweise Wissen in symbolischen Darstellungen wie Gleichungen und Codes weitergegeben wird. Da diese gehäkelten Verkörperungen Korallenformen ähnelten und die Zwillinge in der Nähe des australischen Great Barrier Reef aufwuchsen, das, durch den Klimawandel bedroht, abzusterben begann, entstand die Idee, eine Menge Korallen zu häkeln, um auf diese Gefahr aufmerksam zu machen.

Häkelgruppen

Im Schlossmuseum sind nun Häkelriffe zwischen Quallen, Schnecken, Ammoniten und Haifischzähnen zu bewundern. Um das Österreichische herauszustreichen, baten die Wertheims in Anlehnung an die Technik des Blaudrucks um Korallen in Indigo und Weiß: Mit Perlen und Pailletten besetzte Formen entstanden. Babyblaue Rosetten. Eisbergig, wattig, tüllig, fleischig, kohlköpfig, muschelig, anemonenhaft, nahezu schleimig, obwohl haarig und wollig.

Ein wesentliches Element dieses Kunstprojekts bildet die Partizipation. Die Initiatorinnen geben den Anstoß, die Kleinarbeit wird dann in Häkelgruppen verrichtet. Seit Februar 2023 beteiligten sich tausende Handarbeiterinnen, viele von ihnen kamen das erste Mal überhaupt ins Museum, überschritten diese symbolische Grenze, um aktiv bei einer Ausstellung mitzumachen, holten Wollknäuel aus Schränken und Schubladen. Manche begleitet von Kindern und Männern, die sich an dieser Technik versuchten, die nur per Hand auszuführen ist. Stricken kann auch eine Maschine, Häkeln nicht.

Maschen verbinden Menschen

"30 bis 80 Frauen waren es pro Treff, die sich gegenseitig inspirierten, Ideen entwickelten, mit Material und Formen experimentierten. Maschen verbinden auch Menschen. Handarbeiten jenseits von Socken und Schals löste einen Schub an Kreativität aus", erzählt die Leiterin der Häkelgruppen, Gabriele Kainberger. Die mit Händen erzeugten Teile stecken voller persönlicher Geschichten. Frauen trennten alte Teile auf, die ihnen teuer waren, den Pullover der verstorbenen Großmutter, den Schal der Freundin, die an Krebs erkrankt war. Erinnerungen, gelebte Leben laufen in Form von wolligen Fäden durch die Finger der Handarbeiterinnen.

Als Referenz an den Ebenseer Kreuzstich entstanden Korallen in den Farben Rot und Weiß. Das entsprechende Display in der Ausstellung präsentiert sich mit umhäkelten Zweigen, krallig, weißfingrig, knallrot, krauspilzig, spinnenhaft ausgreifend, wildköpfig aufstrebend, weißhauptig spiralig.

Farbexplosionen

"Ich bin auf dem Land aufgewachsen", berichtet Kainberger. "Frauen aus der Nachbarschaft trafen sich zum gemeinsamen Handarbeiten, Sockenstopfen und Flicken. Da geht es um Austausch. Sich nur zu unterhalten wäre in der arbeitsintensiven Umgebung ungehörig. Du musst immer etwas in Händen halten, etwas produzieren. Im Häkeln ist beides möglich, Körper, Finger, Arme bleiben beschäftigt. Man kann in sich versinken wie in einer Meditation oder Kontakt zur Umgebung aufnehmen." Ein weiterer Wunsch der Wertheims für das Linzer Riff waren wegen der Technik des Goldhaubenstickens die Farben Gold und Schwarz. Eine wahre Explosion resultierte daraus: schwarze Zapfen mit goldigen Spitzen. Goldgarnfühler. Glitzerfransen. Ränder aus Weihnachtsgirlanden. Zaghafte Glanzwürstel. Die brave Haube. Vorwitzig, wie Goldflügel. "Das ganze Projekt hat sich organisch entwickelt. Es handelt sich nicht um die Ausführung eines vorher gefassten Plans, sondern jeder Schritt, jedes Stück, jede Teilnehmerin gestaltet dieses Kunstwerk mit", erzählt Christine Wertheim.

Die Teile wurden schließlich von Kuratorinnen wie Romina Dodic zu Ensembles gefügt, die sich entweder in die Höhe recken oder zu großflächigen Tableaus zusammensetzen. Korallengemälde nennt Christine Wertheim diese, während sie einen acht Meter langen Fries erklärt, dessen Farben und Verläufe auch von der Malerei Gustav Klimts inspiriert sind. Die Schwestern geben selbst ein außergewöhnliches Bild ab, als sie inmitten gehäkelter Kunst stehen, die eine mit Kurzhaarschnitt, in strenges Schwarz und einen roten Seidenschal gekleidet, die andere mit aufgetürmter kastanienroter Frisur, gemustertem Kaftan, in rotglänzenden Hosen. Ihre Gesichter ähneln sich, sie sind eineiig.

Massive Stämme

Ungefähr 5000 Korallen befinden sich allein im Klimt-Fries. Während der Zusammenstellung wird nach Bedarf weitergehäkelt, um gewisse Effekte zu erzielen. Die entstandenen plastischen Gemälde strecken sich vorwitzig in den Himmel, scheinen lebendig in Baumformen, bilden massive Stämme, salatige Köpfe, palmenhaft aufschwellend. Aber nicht nur Wolle aufgetrennter Pullover und Erinnerungsstücke werden zum Material, sondern auch Plastikreste als Mahnung an von Menschen verursachten Müll, der in den Weltmeeren treibt.

Plastiktüten können zerschnitten, zu Garn gedreht und verhäkelt werden, auch die Bänder von Video- oder Tonbandkassetten werden verwendet. In einer Skulptur verarbeiteten die Wertheims ihren Plastikmüll: Strohhalme, Folien, Einweghandschuhe, Hüllen, Deckel, Flaschenkapseln, Nylonreste, weißlich, hell, halbdurchsichtig, wie der Tod, den Plastik den Meereswesen bringt. Ein unheimliches, quallenhaftes Ding, das seinen Bauch obszön hervorwölbt und in dem man bei genauem Hinschauen Vertrautes entdeckt, weil diese Reste uns in jedem Haushalt begegnen.

In einer der Vitrinen im Schlossmuseum ist der Boden für die Korallen nicht aus Sand, sondern aus kleinen Plastikteilen bereitet, ihre Farben ausgebleicht, nur etwas Blau hat sich erhalten, die anderen braun, grau, weißlich, leicht gerundet, sie stammen von einem Strand in Hawaii. "Überall im Pazifischen Ozean sind solche Partikel zu finden", sagt Christine Wertheim. "Ein Blick in unsere Zukunft. Bald werden alle Strände dieser Welt so aussehen." "Der Aspekt des Klimaaktivismus stellte sich aber zusätzlich ein", fährt sie fort. "Das war nicht unser einziges Ziel. Wenn schon Aktivismus, dann Feminismus."

Kriegskinder

Ich erzähle von meinem Aufwachsen mit Textilien und Wolle als Ersatz für mütterliche Wärme: "Meine Mutter war ein Kriegskind." "Wie unsere", meint Margaret Wertheim. "Von ihr lernten wir nähen, stricken, sticken. Sie fertigte unsere Kleider. Das war eine notwendige Strategie, um finanziell durchzukommen. Häkeln mochte ich sofort, weil es so plastisch ist. Das Crochet Coral Reef bildet so auch die Geschichte unserer weiblichen Vorfahren ab, sozusagen mit der Häkelnadel."

Handarbeit wurde immer mit Häuslichkeit verbunden, während Kunst sich gegen das Häusliche positionierte. Frauen und Textilien waren aus der Welt der hohen Kunst ausgeschlossen. Mittlerweile verschwimmen diese Grenzen. "Außerdem, immer wenn ich merke, dass eine Definition von Kunst auftaucht, versuche ich mich zu fragen: ‚Wer hat die Definition konstruiert?‘, ‚Wer braucht die gegensätzlichen Unterscheidungen und wird von ihnen profitieren?‘", meint Margaret Wertheim im Gespräch. "Das Radikalste, was wir je gemacht haben, ist, mit dem Häkelriff postmenopausale und damit entwertete Frauen als Künstlerinnen in die Biennale von Venedig 2019 zu schmuggeln", erklärt Christine Wertheim. "Frauen ab 50 und älter in die Kunstwelt zu schleusen, um ihnen und ihrem Werk Respekt zu verschaffen, ist ein politischer Akt."

Widerlegter Kitschverdacht

Bei einem letzten Rundgang durch die Ausstellung will ich erspüren, was die Korallenriffe erzählen: Einzelteile drängen, überschlagen sich, fordern Sichtbarkeit ein, mit Häkeldeckchenvorurteilen, mit Kitschverdacht belegt, gleichzeitig prächtig, schwülstig, alles andere als einfach, sie karikieren Traditionen, übertreiben, die goldene Haube werden zum zeitfressenden Monster, ein materielles Spiel, das für andere Formen von Öffentlichkeit plädiert und in dem jede einzelne Handarbeiterin in unzähligen Akten der Kommunikation Teil des Kunstwerks wird.

Donna Haraway nennt das Crochet Coral Reef in ihrem Buch Unruhig Bleiben eine "Verknotung von Mathematik, Meeresbiologie, Umweltaktivismus, ökologischer Bewusstseinsbildung, weiblicher Handarbeit, Textilkunst (fiber art), Museumsausstellung und gemeinschaftlicher Kunstpraxis". Vielleicht sollte ich nun meine Häkelnadel hervorholen, die unbenutzt im Köcher zusammen mit Bleistiften und Filzschreibern steckt. Wieder Luftmaschen anschlagen. Vorerst aber häkle ich mit Worten, schlage in die Tasten, verfertige Satzgirlanden mit Fingerspitzen. (Sabine Scholl, 12.11.2023)