Kiosk
Laden in der Sonnenallee, der sich dem Pro-Palästina-Generalstreik angeschlossen hat.
IMAGO/Rolf Kremming

Auf dem Hermannplatz in Berlin-Neukölln herrscht immer Betrieb. Zwar merkt man der lokalen Karstadt-Filiale an, dass sie in den letzten Jahren systematisch ausgedünnt wurde. Der Signa-Konzern des österreichischen Investors René Benko möchte hier in großem Stil etwas Neues hinstellen, Marke: Babylon Berlin. Gegen die monumentalen Pläne hat sich längst Widerstand formiert, vielleicht erledigt aber ohnehin die momentane Baukonjunktur das überkandidelte Vorhaben.

Auf dem Mittelstreifen zwischen den beiden Straßenstreifen gibt es einen kleinen Markt mit Gemüse und allerlei Zeug. Die meisten Leute eilen dahin, dem U-Bahnhof zu. Hier trifft sich die berüchtigte U8 mit der berühmten U7, die ganz Berlin von Spandau bis Rudow durchzieht. An einem Mittwoch im Oktober steht neben dem Eingang zur U-Bahn eine Frau und hält ein Schild in die Höhe. Ich bin Jüdin und für Frieden in Gaza.

Viele Sprachregelungen

Sie hat es auf Englisch geschrieben, das passt besser zu dem vielstimmigen Publikum, das sie hier findet. Zwei junge Männer stehen neben ihr und wirken unschlüssig, ob sie sie ansprechen sollen. Sie gehen weiter. Die Frau ist auch nicht zum Diskutieren hier. Sie will still einen Standpunkt geltend machen.

Einen von vielen möglichen Standpunkten in diesen Tagen nach dem 7. Oktober, nach dem "antisemitischen Auslöschungspogrom" an der Südgrenze Israels. Auf diese Formulierung hat der Filmwissenschafter Rembert Hueser den Angriff der Hamas gebracht – auch das eine von vielen möglichen Sprachregelungen, die sich darum bemühen, dem Ereignis gerecht zu werden.

Fünf Minuten vom Hermannplatz entfernt liegt die Ecke Sonnenallee und Reuterstraße, die es am Abend dieses Samstags im Oktober zu einer gewissen Bekanntheit brachte. Baklava wurde damals an Passanten verschenkt, das propalästinensische Netzwerk Samidoun, das mit dieser Geste in Verbindung gebracht wurde, ist inzwischen in Deutschland verboten.

Die Bilder von einem spätabendlichen Auflauf, der sich als demonstrative Zustimmung zu dem Angriff der Hamas lesen ließ, entsprechen für den 7. Oktober 2023 den Bildern von jubelnden Kindern in Jordanien, die nach 9/11 im Fernsehen zu sehen waren. In beiden Fällen ist nicht wirklich genau überliefert, was geschehen ist, wichtig aber ist die Codierung: Palästina wird dort bekräftigt, wo die USA oder Israel attackiert werden.

Der Schriftsteller Dmitrij Kapitelman hat ein paar Tage später eine Reportage veröffentlicht, für die er sich mit lokalen Zuckerbäckern in der Sonnenallee unterhalten hat. Und wenn man sich an einem Nachmittag Anfang November selbst noch einmal ein wenig an der Ecke umhört, bekommt man fast wörtlich denselben Befund, den auch Kapitelman notiert hat: "Krieg ist scheiße. Das alles ist scheiße."

Komplizierte Tektonik

Der Mann, der das sagt, ist aus Syrien, keinesfalls will er Partei ergreifen in der Frage, die gerade mit vielleicht seit den Tagen der ersten Intifada nicht mehr gekannter Wucht zu Positionsbestimmungen veranlasst: Israel oder Palästina? Israel und Palästina? Empathie gegen Antikolonialismus? Deutsche Staatsräson gegen Befreiungskampf? Solidarität mit Juden und/oder Palästinensern? Kampf gegen Antisemitismus und/oder Antirassismus?

Wie in einer komplizierten Tektonik schieben sich Haltungen, Argumentationsmuster, Vernunftaspekte, Ideologien, Begriffsketten ineinander, und der Berliner Bezirk Neukölln ist für diese Situation zu einer sinnbildlichen Szene geworden. Er steht für das, was in Österreich gern in Favoriten gesucht und gefunden, aber auch erfunden wird.

Hier kommt vieles von dem im Kleinen zusammen, was gerade auf der Weltbühne geschieht. Hier stoßen auch viele Projektionen aufeinander, die auf den Konflikt (derzeit: auf den Krieg) im Nahen Osten gerichtet sind.

Am 20. Oktober riefen die Kurzfilmtage Oberhausen, ein renommiertes deutsches Festival, auf ihrer Facebook-Seite dazu auf, zu einer Kundgebung zu kommen, zu der der Zentralrat der Juden in Deutschland aufgerufen hatte: "Eine halbe Million Menschen sind im März 2022 auf die Straße gegangen, um gegen Russlands Überfall auf die Ukraine zu protestieren. Das war wichtig. Bitte lasst uns jetzt ein mindestens genauso starkes Zeichen setzen. Zeigt der Welt, dass die Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser in der Minderheit sind. Kommt alle! Bitte!"

Formuliert war der Aufruf von Lars Henrik Gass, dem Direktor der Kurzfilmtage. Wenige Tage später sah er sich mit einer Stellungnahme konfrontiert, die inzwischen mehr als 1700 Menschen unterzeichnet haben. Sie hebt darauf ab, dass Gass mit der Formulierung "Neuköllner Hamasfreunde und Judenhasser" ein Narrativ geltend gemacht hat: Unterstützung für die palästinensische Sache wird hier von vornherein zu einer Sache des Hasses und des (muslimischen) Antisemitismus – und auch indirekt zu einer Ortsspezifik.

Neukölln wird bei Gass quasi zu einem Zentrum für die Einstellungen, gegen die in Deutschland gerade mobilisiert wird – die vielen Palästinenser, die in dem Bezirk tatsächlich leben, werden auf zwei polemische Begriffe gebracht und damit "entmenschlicht und stigmatisiert".

Hoffnung auf Dialog

Der Festivalleiter hat sich inzwischen zwar nicht entschuldigt, aber doch eingeräumt, dass er mit seinem "spontanen Aufruf", dem "Trauer, Empathie, Erschrecken und Zorn über den Terror vom 7. Oktober" zugrunde lagen, niemanden "stigmatisieren" wollte. "Wir hoffen, dass der Dialog weitergeht."

Der Vorfall ist ein Beispiel dafür, wie schnell auch bei guten Absichten derzeit Klischees auftauchen. Neukölln ist schon lange ein Topos im Gefühlshaushalt der Bundesrepublik. Der Bezirk steht für viele Ängste, die sich mit Zuwanderung verbinden. Hier befindet sich die Rütlischule, die 2006 Alarm schlug, weil sich Vorfälle mit Gewalt häuften. Ob das mit der Religion der Schulkinder (zu 80 Prozent muslimisch) oder mit deren sozialer Lage zu tun hat, wird je nach Weltanschauung mal so, mal so beantwortet.

Schlagwörter wie Parallelgesellschaft oder Clankriminalität werden auf Neukölln bezogen. Andererseits zieht eine populäre Fernsehserie wie 4 Blocks gerade auch aus dem bunten Leben auf der Sonnenallee einen guten Teil ihrer Attraktion und verbindet diese mit einer Familiengeschichte, die sich an Mafiamythen genauso orientiert wie an Familienarchetypen (guter Bruder / böser Bruder).

Rahmenbedingungen schaffen

Die Politik blickt auf Neukölln strukturell naiv: Sie weiß zwar, dass ihre Aufgabe vor allem darin besteht, Rahmenbedingungen für ein größtmögliches Maß an Freiheit und Sicherheit zu schaffen, aber sie muss dies in einem permanenten Wahlkampf tun, in dem vor allem Ängste geschürt werden.

Eine der Institutionen, die einen Eindruck von der anderen Politik geben, die sich viele vor allem junge Leute wünschen, ist das Oyoun in der Lucy-Lameck-Straße. Der Name verweist auf die erste Frau im Parlament des unabhängig gewordenen Tansania. Bis vor wenigen Jahren lautete die Adresse an der Hasenheide noch anders: die damalige Wissmannstraße erinnerte an einen Kolonialkommissar, der in Tansania, Ruanda und Burundi, damals Deutsch-Ostafrika, gegen die lokale Bevölkerung Krieg führte.

Sonnenallee Neukoelln
Die Sonnenallee in Berlin-Neukölln gilt als Zentrum des arabischen Berlins und seit dem 7. Oktober als Hotspot von Pro-Palästina-Demonstrationen.
Stefan Boness / SZ-Photo / pictu

Straßen neu zu benennen, das ist schon seit einer Weile ein wichtiger Aspekt in einer Politik, die etablierte Geschichtserzählungen aufbrechen muss, weil sie als Verlängerung des Kolonialismus durchschaut werden. Das Oyoun befördert "dekoloniale, queer*feministische und migrantische Blickwinkel". Wenn man mit Louna Sbou, der Geschäftsführerin, telefoniert, dann bekommen die Ereignisse vom 7. Oktober in Neukölln einen anderen Fokus.

Sie schildert einen Tag, an dem sich die Einschätzung drastisch veränderte. Als die ersten Nachrichten aus Israel und Gaza eintrafen, sprachen viele noch von einem "Gefängnisausbruch", als dann aber das Ausmaß der Gewalt klarer wurde, setzte doch deutlich eine Entgeisterung ein.

Grenzen ziehen

Louna Sbou spricht natürlich nicht für alle, die an diesem Tag auf der Straße waren, aber sie lässt glaubwürdig erkennen, dass Gewaltverherrlichung eine Grenze ist, die in ihrem Umfeld niemals überschritten werden darf. Das ist wiederum eine Grenze, die derzeit auch die Behörden in Deutschland zu ziehen versuchen: Was ist legitime politische Äußerung (auch gegen den Krieg in Gaza, mit dem Israel auf den Angriff reagiert), und was geht darüber hinaus?

Die veränderte Situation seit dem 7. Oktober zeigt sich aber nicht nur in den Justierungen bei der Anwendung des Demonstrationsrechts. Sie schlägt sich konkret dort nieder, wo die Politik ihren wichtigsten Hebel hat: bei den Budgets. Dem Oyoun, das zuletzt eine Veranstaltung mit palästinensischem Kino ausgerichtet hat, werden Fördermittel entzogen. Damit schließt sich ein Kreis, denn schon lange standen Einrichtungen, die Israel als "Siedlerkolonie" bezeichnen, unter Verdacht, Antisemitismus zu befördern.

Oyoun verwendet dieses Wort auch, es ist einerseits ein analytischer Begriff, über den man streiten kann, aber andererseits ein Code, mit dem man ein Paradigma (Postkolonialität) über ein anderes (die deutsche Vergangenheitsbewältigung mit ihrem Fokus auf den Holocaust und den Staat Israel) stellt.

Zufluchtsort

Ein junger Historiker, der vor etwas mehr als zehn Jahren aus Israel nach Berlin gekommen ist, könnte am ehesten für so etwas wie eine Verbindung dieser beiden Positionen stehen: Für Abraham Ingber war Berlin vor allem ein "Zufluchtsort".

Er ist schwul, in der Jeschiwa, in der er als orthodoxer Jude zur Schule ging, hatte er es "nicht einfach". Wenn man aus Israel nach Deutschland kommt, muss man nicht um Asyl ansuchen, aber Ingber stellt sich bewusst in den Zusammenhang mit vielen "Migrantinnen und Migranten aus der arabischen Welt". In Deutschland sieht er vor allem ein "Klima der Einschüchterung", das von Boulevardzeitungen geschaffen wird, die seiner Meinung nach regelrechte "Hetzkampagnen" führen. Ingber ist, wenn er in Neukölln unterwegs ist, nicht als Jude erkennbar. Er weiß selbst, dass es "mehrfache jüdische Realitäten" gibt, eine dieser Realitäten sind schon länger antisemitische Übergriffe im Alltag. Ingber gehört dabei aber zu den Juden, die sich unbedingt dafür aussprechen, dass in Deutschland "Begegnungen mit propalästinensischen Demonstranten auf Augenhöhe" ermöglicht werden.

Früher hätte man Neukölln einfach als multikulturell bezeichnet, und auch dazu gab es schon entsprechende Genres: Culture-Clash-Komödien funktionierten lange Zeit in allen erdenklichen Konstellationen. Sie stellen Lernerfahrungen dar, die zwar unter Druck passieren, aber in der Regel ist es ein familiärer Druck, für den sich dann eben heitere Auflösungen finden.

Dauerduldung

In der global vernetzten Welt aber reicht der Begriff der Multikulturalität nicht mehr aus. Denn was sich in Neukölln besonders deutlich zeigt, aber letztlich zur modernen Urbanität insgesamt gehört, ist ein Umstand, für den die Politik noch keine geeigneten Register gefunden hat: doppelte oder mehrfache Staatsangehörigkeiten, und zwar nicht nur in dem handfesten Sinn, den ein Reisepass dokumentiert.

Die vielen Hintergründe, mit denen Menschen leben, werden in den sozialen Medien potenziert. Palästina ist ebenso sehr eine Chiffre wie auch ein bürokratischer Sachverhalt. Menschen, die aus einem Staat geflüchtet sind, den es nicht gibt (und der ihnen nie eine entsprechende Bürgerschaft ausweisen konnte), landeten in Deutschland in Dauerduldung, aber weitgehend außerhalb dessen, was man Zugehörigkeit nennt. In Neukölln leben relativ viele Menschen mit solchen Behördenschicksalen. Dazu kommen viele Menschen, die sich auch in zweiter oder dritter Generation nach dem Gastarbeiterabkommen stark mit der Türkei identifizieren.

Bert Rebhand
Bert Rebhandl ist Journalist und Autor. Zuletzt erschien von ihm: "Jean-Luc Godard. Der permanente Revolutionär" (Zsolnay).
privat

Der deutsche Staat hat angesichts dieser Herausforderungen eine Schwäche, mir der er sich eigentlich besser legitimieren könnte: Er beruht auf einer Schuldgeschichte, und aus einer relativ gut gelungenen (geschenkten) Befreiung daraus. Er beruht auch auf einem Prinzip des "Nie wieder".

In diesen Wochen entsteht dabei der Eindruck einer merkwürdigen Entstellung von Postkolonialität. Wenn man Politiker über Neukölln reden hört, also über einen Berliner Innenstadtbezirk, dann könnte man fast meinen, hier befinde sich eine neue Form von Kolonie – nicht unbedingt ausbeutbar, aber doch in vielerlei Hinsicht fremd und nicht ausreichend an das "Zentrum" gebunden.

Gefährliches Gedränge

Auf dem Hermannplatz wird es Abend, die Frau mit dem Schild hat ihren Platz geräumt. Auf den Bahnsteigen der U-Bahn herrscht beinahe schon gefährliches Gedränge. Das hat auch damit zu tun, dass die Berliner Verkehrsbetriebe hier seit gefühlt Ewigkeiten eine dieser Baustellen unterhalten, die hinter Bretterwänden unter Verschluss gehalten werden. Man kriegt dadurch nie mit, ob etwas weitergeht – hier geht anscheinend schon besonders lang nur sehr wenig weiter, und solange einer der Ausgänge dicht ist, stehen einander die Leute noch mehr auf den Füßen.

Es sind solche Umstände im Leben einer Stadt, angesichts derer alle gleich sind. Der Neuköllner Alltag, zwischen Baklava und Parolen, ist letztlich keine Sache von Law and Order, sondern vielleicht zuerst einmal einfach nur einer funktionierenden Verwaltung und ausreichender Investitionen. Wie überall sonst auch. (Bert Rebhandl, 14.11.2023)